Heute vor 40 Jahren war ein ganz normaler Samstag

Heute vor 40 Jahren war ein ganz normaler Samstag. Und heute vor 40 Jahren trug meine Mutter schwer an mir. Wie sich das wohl für sie angefühlt hat? Wie war es wohl für sie, dieser große Bauch, das darin strampelnde Kind, in dem Bewusstsein, dass es jederzeit so weit sein kann? Wie war es, Mutter einer „Erstgeborenen“ zu sein, Mutter einer Tochter eines hohen Rangträgers? Hatte sie überhaupt das Gefühl, dass ich ihr Kind war? Liebte sie mich? Oder hatte sie Angst?

War es so, dass ich kommen durfte, wann ich wollte, und dass es der Zufall wollte, dass ich dann an einem bedeutsamen Tag, an einem hohen Feiertag innerhalb der Bedeutungszusammenhänge der ideologischen Gruppe, in die ich hinein geboren wurde, meine Nase zum ersten Mal in diese Welt steckte? An einem Tag, der für die meisten Menschen in der westlichen, christlich geprägten Welt ebenfalls mit Bedeutung versehen ist. Ein Jahreswechsel.

Oder war das auch, wie so vieles andere, kein Zufall?

Stimmt die Version, in der morgen vor 40 Jahren abends spät die Wehen heftig losgingen, und in der mein Vater meine Mutter in halsbrecherischer Fahrt in die Klinik brachte, über vereiste Straßen, vorbei an drei Blitzeis-Unfällen, die mein Vater allesamt ignorierte? Und in der dann, um zehn Uhr abends, plötzlich die Wehen wieder aufhörten, so dass das Personal meinen Vater wieder heimschicken wollte? Und dann kam „ich“, so wurde es anderen hier erzählt, in ziemlicher Windeseile in den frühen Morgenstunden.

Unsere Geburtsurkunde sagt, dass „ich“ in diesem Krankenhaus und zu dieser bestimmten Uhrzeit geboren wurde, und es gibt in unserem Kinderfotoalbum auch ein blasses Polaroid, mit (m?)einer ungeschminkten, erschöpften, lächelnden, irgendwie entrückt und überrumpelt wirkenden Mutter und einem Baby im Arm. Das bin vermutlich „ich“.

Ganz sicher können wir uns nie sein, was wirklich war in dieser Familie und in unserem Leben, und was Inszenierung.

Ziemlich wahrscheinlich ist – weil manche von uns es später selbst gelernt haben, und auch dabei mitgeholfen haben – , dass versucht wurde, die Zeugung auf einen günstigen Zeitpunkt zu legen, und dass die Wehen dann künstlich ausgelöst wurden, um das „richtige“ Datum zu erreichen.

Und oh, wie war dieses Datum richtig. Wie waren die Zahlen günstig, in immer wieder anderen Jahres- und Monatszusammenhängen. Wie hat diese „Bestimmung“, genau an diesem Tag, in genau diesem Jahr geboren worden zu sein, uns so besonders gemacht, so besonders verpflichtet, bestimmte Dinge zu lernen, bestimmte Opfer zu bringen, auf so besondere Art gefördert zu werden, auf so besondere Art vernachlässigt zu werden, auf so besondere Art benutzt zu werden, uns auf so besondere Art zu verwickeln in ALLES. Und wie hat es uns, in a wicked way, auch geschützt.

Die Zahlen-Ideologie, die verknüpft ist mit dem allen, sitzt tief in uns drin. Wir nehmen bestimmte Zahlen und Daten noch immer wahr, stellen Bedeutung her, wo andere nur Ziffern sehen. Das ist, wenn es uns bewusst wird, schmerzhaft, aber mittlerweile ist es ein kurzes Realisieren, dass es so ist, und dann ein bewusstes Loslassen, oder zumindest ein erfolgreiches Ignorieren davon. Wobei es noch immer, manchmal, und an manchen Orten in unserem System, zu bestimmten Zeiten eine erhöhte Aufmerksamkeit gibt, ein gespanntes Warten auf weitere Zeichen, eine Bereitschaft, eine Hoffnung auf einen Ruf. Und auch das schmerzt. Aber es ist gut, dass es schmerzt, denn Schmerz bedeutet Bewusstheit und Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit.

Wir sind nicht um unserer selbst willen in dieser Welt empfangen worden. Wir wurden für die Verwirklichung und die Befriedigung von anderen gezeugt. Und doch glaube ich, dass etwas in meiner Mutter uns liebte. Und ich glaube, dass etwas in ihr ganz genau wusste, dass es sich nicht lohnte, sich zu sehr an dieses Kind zu binden.

Übermorgen, also, WIRKLICH übermorgen, werden wir nun 40! Jahre! alt. Für manche von uns fühlt sich das wie Science Fiction an, dass wir plötzlich in der Zukunft sind. 2020 zu erleben, wo wir doch sicher glaubten, es nicht mal bis zur Jahrtausendwende zu schaffen! Für mich und alle die, die weitestgehend den Alltag bestreiten, ist das ein Grund zum Feiern, weil nun ein Lebensjahrzehnt für uns beginnt, auf das wir uns schon lange freuen. Während unserer Jugend und frühen Erwachsenenzeit gab es immer wieder Frauen, die uns buchstäblich das Leben gerettet haben, die uns Vorbilder wurden in verschiedenen Lebensbereichen, die den Unterschied für uns gemacht haben. Alle diese Frauen waren in ihren 40ern, und wir haben sie als kraftvoll und lebensklug wahrgenommen. Das waren Frauen, die schon einiges durchgekämpft hatten, die manches einfach nicht mehr nötig hatten, die noch viel Kraft und Energie hatten, aber auch Gelassenheit. Unser Leben ist oft nicht leicht, aber es hat schon manches von diesen Qualitäten mittlerweile, und wir freuen uns darauf, sie im nächsten Jahrzehnt weiter zu entwickeln. Und hoffentlich auch an manchen Stellen den Unterschied zu machen.

So war das nicht gedacht, als wir vor 40 Jahren noch im Bauch unserer Mutter schwammen, aber: Heute bestimmen wir unser Leben selbst.

Weihnachten im Wandel der Zeiten

Sie wollten mehr. Sie wollten fliegen wie die Vögel, allerdings ohne die Unannehmlichkeit, sich Federn wachsen lassen zu müssen.

J. K. Rowling, Quiditch im Wandel der Zeiten

Noch fünfmal Schlafen, dann ist wieder Weihnachten. Wir können den Fortschritt der Zeit bis zu diesem Fest jeden Morgen gemeinsam mit den Kindern feststellen, wenn wieder als allererstes nach dem morgendlichen Augenaufschlag ein weiteres Säckchen geöffnet wird. Heute war es also schon Nummer 19.

In uns gibt es auch einen Kalender, und der funktioniert immer noch, auf seine ganz eigene Weise. Für den braucht es keine Türchen oder Säckchen oder Abreiß-Zettelchen, er weiß auch ohne das alles auf scheinbar magische Weise ganz genau, wo im Jahreslauf wir uns befinden. Nur in welchem Jahr und in welcher Realität wir uns befinden, dass weiß dieser magische Kalender anscheinend immer noch nicht, zumindest nicht so richtig. Denn wenn er wüsste, dass wir uns im Jahr 2019 befinden, und dass die letzte mit der Ursprungsfamilie (und bei dem Täter*innenkreis) verbrachte Weihnachtszeit 2001 war, und somit unfassbare 18 Jahre zurück liegt – ja, wenn er das wirklich wüsste, wenn er das wirklich als real³ begreifen und spüren würde, dann bräuchte er uns nicht all diese Warnungen schicken. Warnungen in Form von Unbehagen, schlechten Träumen, Erinnerungsblitzen, nach-Hause-fahr-Sehnsüchten, und in Form von Angst, Erschöpfung, Isolationsgefühlen und Kranksein.

Tatsächlich begreife sogar auch ich als Person des Alltags nicht wirklich, dass mittlerweile mehr als 17 Jahre zwischen uns und dem Tag liegen, als wir unsere Eltern zum letzten Mal gesehen haben. Mehr als 17 Jahre zwischen jetzt und der Zeit, als wir eine Abwesenheit der Eltern nutzten, um ziemlich Hals über Kopf und überhaupt nicht vorbereitet die Flucht zu wagen. Und um uns und mir das klarer zu machen, dass es so ist, schreibe ich hier eine etwas andere Art des Jahresrückblicks auf:

39 Jahre Weihnachten im Wandel unserer Zeiten.

Weihnachten war ein Fest, dass in meiner Herkunftsfamilie ziemlich zelebriert wurde. Es war auch innerhalb der Täter*organisationen eine Zeit, die mit besonderer Bedeutung versehen wurde, aber ich schreibe diesen Rückblick dennoch ausschließlich aus meiner alltagsnahen Perspektive. Weil daraus eh schon genug klar wird.

Weihnachten in unseren ersten 17 Lebensjahren bedeutete selbstgenähte Adventskalender, mit mühevoll gepackten kleinen Päckchen dran, für jeden Tag, für uns und unsere jüngere Schwester. Bedeutete Geschenke und große Teller zu Nikolaus, bedeutete Geheimnistuerei, bedeutete Plätzchenbacken, ein aufwendig geschmücktes (sehr großes) Haus, selbst gebackenen Weihnachtsstollen, jeden Sonntag Adventskaffee und Adventsgeschichten lesen vor dem bullernden Kachelofen. Bedeutete Christmette oder, als wir kleiner waren, Kinderweihnachtsgottesdienst. Bedeutete einen Weihnachtsbaum, der über 4 Meter hoch war. Weihnachten bei uns zuhause war PERFEKT. So, wie die ganze Familie.

Es bedeutete auch jedes Jahr eine Nikolausfeier mit einer scheinbar ganz normalen Gruppe von Erwachsenen und Kindern, mit einem „echten“ Níkolaus und einem „echten“ Knecht Ruprecht, vor dem, dessen Sack und dessen scherzhaften Drohungen wir eine reale Todesangst hatten. Auch wenn wir selbst als „braves Mädchen“ immer gut davonkamen. Irgendwer hier innen wusste mehr über das, was noch alles passierte bei diesen Nikolausfesten, später, und blies denen, die im Alltag die unschuldige, weil unwissende Miene zum bösen Spiel machten, die Angststarre in die Knochen.

Weihnachten bedeutete immer auch, an Heiligabend irgendwie krank und erschöpft zu sein, sich irgendwie geschunden zu fühlen, ein ganz merkwürdiges Gefühl im Körper zu haben, die ganze Haut tat weh, die steife Festtagskleidung tat weh. Es bedeutete, irgendwie traurig zu sein, trotz der ganzen wunderschönen Weihnachtsperfektion um uns herum. Trotz der Sigikid-Puppen und Steif-Kuscheltiere und Barbie-Traumhäuser. 1993, da waren wir fast 14, stand zum ersten Mal, geschrieben mit dem brandneuen, teuren Füller „am liebsten möchte ich tot sein“ in unserem Tagebuch.

Weihnachten 1997, da waren wir fast 18, waren wir so offensichtlich nah dran an der Umsetzung dieses geschriebenen Wunsches, dass wir dieses Weihnachten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verbrachten. Das war auch das Weihnachten, als unser Vater, während wir den ersten Tagesbesuch zuhause hatten, den Baum fällte, den er für uns in den Garten gepflanzt hatte, als wir noch klein waren.

Seit diesem Weihnachten hatte unsere Weihnachtsperformance zuhause leichte Risse. Jedes Jahr wieder fiel das Lächeln schwerer, war die Schwere größer, die Gefühlslosigkeit und Lähmung größer, das Gefühl, fremd zu sein, auch. Ab 2000 kehrten wir für die Feiertage aus der Stadt, in der wir lebten und lernten, nach Hause zurück, mit einer Mischung aus Sehnsucht und Unbehagen und Angst und Lähmung in der Seele, die sich beim Übertreten der Schwelle zu diesem Haus immer in Dissoziation, in Unter-einer-Glasglocke-sein, zusammenballte. 2001 war dann das letzte gemeinsame Weihnachtsfest mit der Ursprungsfamilie. Das war, als wir schon wussten, dass wir Viele sind. Als wir aber noch nicht wussten, wie krass unsere Amnesien waren, weil wir auch die immer wieder vergaßen. Als unsere damalige Therapeutin mit Sicherheit mindestens ahnte, wohin wir (wirklich/auch) fuhren, und wir vom Alltagsteam jedes Anzeichen dafür aber mit heftiger Abwehr beantworteten. Wir wussten damals nicht, dass es das letzte Weihnachten mit der Herkunftsfamilie sein würde.

Weihnachten 2002 war dann das erste Weihnachten in „Freiheit“. Die war damals jedoch erst knapp zwei Monate alt, und hing am seidenen Faden. Wir waren in einem Sektenaussteigerhaus, von ca. 9:00 -17:00 betreut, aber buchstäblich mutterseelenallein in den Nächten. In einem Dorf in einer der unbesiedeltsten Gegenden in Deutschland, ohne Telefonzugang, ohne Handy, ohne Internet, ohne Busanbindung. Über die Feiertage besuchte uns unser damaliger Freund und brachte unsere Hündin mit, die in der Einrichtung nicht regulär bleiben durfte. Im Rückblick weiß ich nicht, wie wir das überlebt haben. Aber ich weiß noch, wie heftig der Abschied von unserem Freund, und vor allem von unserer Hündin dann war, als sie nach den Feiertagen wieder gehen mussten.

Weihnachten 2003 hatten wir unseren 23. Geburtstag und die ersten, besonders harten Monate des Ausstiegs überlebt, und wir hatten einen neuen Namen, eine neue Wohnung, einen Job, der uns über Wasser hielt, keine Ausbildung, keine Perspektive und jeden Tag Suizidgedanken. Aber wir hatten unsere Hündin bei uns, und eine gute, alte Freundin, die uns über die Feiertage mit zu ihrer Familie nahm.

Weihnachten 2004 hatten wir die Illusion, dass unser neuer Name uns schützen würde, verloren. Wir hatten einen Überfall der Täter*organisation in unserer Wohnung und im Anschluss daran einen Suizidversuch und einen Psychiatrieaufenthalt hinter uns gebracht. Wir hatten keine Arbeit mehr, weil wir nichts mehr konnten, wir hatten ein paar Monate Wohnungslosigkeit hinter uns. Aber wir hatten mal wieder Glück gehabt, und über eine Internetfreundschaft Unterschlupf gefunden bei einer Familie. Wir hatten ein Familienweihnachten, zwar nicht einfach, aber voller Herzenswärme für uns.

Weihnachten 2005 hatten wir dann einen Studienplatz in Psychologie, und eine gesetzliche Betreuerin, die diesen Studienplatz und dessen Finanzierung gemeinsam mit uns herbeigekämpft hatte. Wir hatten mit der gleichen Familie ein Familienweihnachtsfest. Wir hatten auch noch immer dauernd Angst, wir hatten noch immer ständig das Gefühl, nur zu überleben, aber wir hatten auch wieder Hoffnung und eine Perspektive.

Weihnachten 2006 hatten wir ein neues Zuhause – eine kleine Gemeinschaft, mit lauter jungen, tendenziell anarchistischen, auf jeden Fall linken, herzlichen, voll chaotischen Menschen auf einem heruntergekommenen Hof auf dem Land. Vollkommen prekär, aber zum ersten Mal ein Gefühl von Geborgenheit, Wahlfamilie und Augenhöhe..

2008 dann war alles wieder auf Messers Schneide. Wir hatten herausgefunden, dass wir noch abgegriffen wurden. Und wir wurden wieder sehr real (ja, real³) von den Täter*innen bedroht. Kurz vor Weihnachten gab unsere Therapeutin, die uns so lange begleitet hatte, uns fast auf, weil sie „nicht dabei zusehen wollte, wie wir uns entweder umbringen, oder zurückkehren“. Wir fanden Unterschlupf bei einer erwachsenen Freundin und in deren Familie, waren dort sicher vor denen, die uns Böses wollten, und vor uns selbst. Wir waren in liebevoller Umgebung, und doch war es eins der härtesten Weihnachtsfeste seit dem Ausstieg.

Und dann kam 2009 – Weihnachten 2009 waren wir in einer neuen Beziehung und haben Weihnachten zum ersten Mal mit einigen von den Menschen verbracht, mit denen wir immer noch zusammenleben. Es war das erste Weihnachten, das sich leichter und selbstbestimmter anfühlte. Es war überhaupt das erste Jahr, in dem es sich im Großen und Ganzen nicht nur wie überleben anfühlte.

Und seitdem ist Weihnachten nach und nach zu einem Fest geworden, mit dem wir immer mehr besondere, schöne, eigenartige Erinnerungen verknüpfen. Ein Wald voller Frost und Glitzer. Ein Stromausfall und Essenzubereiten mit Freund*innen bei Kerzenschein im Bauwagen. Ein geschmückter Baum im Wald, mit Gaben für die Wildtiere und ein Zusammenkommen mit freundlichen Menschen, Lichterglanz, Punsch und Keksen. Ein riesiger Meteorit, der für fast 30 Sekunden am Himmel zu sehen ist. Spieleabend. Und dann das erste Weihnachten mit einem winzigen Baby. Unserem ersten Kind.

Und drei Jahre später, 2015, wieder ein ganz spezielles Weihnachten. Mit zwei ganz besonders winzigen Kindern, in Inkubatoren, auf der Kinderintensivstation. Mit Pfleger*innen und Ärzt*innen, die liebevoll und menschlich und nahbar waren, und die es uns trotz allem irgendwie weihnachtlich gemacht haben, dort, auf dieser Station.

Spätestens seitdem drei Kinder bei uns zuhause rumspringen, ist Weihnachten immer trubelig und kuschelig und aufregend und anstrengend und chaotisch und liebevoll und lustig und überfordernd, und es ist immer mehr UNSER Weihnachten. Es ist manchmal etwas leichter, aber trotz allem immer noch eine sehr herausfordernde Zeit für uns. Wir sind immer noch meistens gestresst, von allen möglichen Erinnerungen verfolgt, erschöpft, und leider auch meistens irgendwie krank. Aber es ist trotzdem auch schön, mittlerweile.

Und es ist seit 18 Jahren auf jeden Fall nie perfekt. Zum Glück.

Kindergeburtstag

Seit einer guten Woche wiederkehrende melancholische Anwandlungen, und untergründig wachsende Überforderung. Und ein Staunen und ein (Vor)Freuen mit den (Außen)Kindern: Die Zwillinge wurden vier Jahre alt!

Es passiert uns auch sonst oft, aber rund um die Geburtstage besonders häufig: Wir betrachten unsere Kinder und wundern uns, wie groß sie schon sind. Dass sie immer noch leben. Dass wir sie schützen können. Und ein nicht geringer Teil des Schützen-Könnens ist, dass wir das überhaupt und immer noch hinkriegen, all diese kleinen, wichtigen, jeden-einzelnen-täglichen Dinge. Pausenbrote schmieren, die vollgepullerten Ski-Anzüge sofort in die Waschmaschine stecken, damit sie morgen wieder waldkindergartentauglich sind, Nasen putzen, Essen-das-gemocht-wird produzieren, im richtigen Moment trösten und im anderen Moment liebevoll konsequent bleiben, mitschneiden, dass das Brot und der Räuchertofu alle sind – und beides auch wieder neu besorgen, Zahnärztintermine ausmachen, auf Läuse überprüfen, Sondertermine in Kindergarten und Schule auf dem Schirm haben, und die ganze Repro drumherum. Und vor allem, ganz viel einfach da sein, ansprechbar sein, präsent sein. Wir müssen das nicht alleine machen. Nein, wir haben das Glück, unsere Kinder gemeinsam mit drei anderen Eltern – dem leiblichen Vater und zwei Co-Eltern – begleiten/aufziehen zu können. Ein Teil der Geburtstags-Melancholie ist auch einfach unfassbar große Dankbarkeit für diese anderen Erwachsenen in unserem Leben. Wie sie da sind, so selbstverständlich, so klar, für diese Kinder, und auch für uns. Und wir für sie. Wir haben eine Familie. Eine gute Familie.

Ja, sie leben. Die Zwillinge, und ihr großes Geschwister. Sie hätten noch eine viel größere Schwester. Die wäre jetzt bereits erwachsen, wenn sie hätte leben dürfen. Aber das durfte sie damals, als wir/dieser Körper noch jünger waren, als sie heute wäre, und als wir noch in der Welt der Täter*innen lebten, nicht. Diese unsere Kinder jetzt aber, sie leben, alle drei, und wir alle zusammen, so frei und so sicher wie viele Menschen auf der Welt überhaupt nicht leben können. Da kann man ja schon mal berührt werden. Da können mir ja mal, so wie jetzt gerade, während ich darüber nachdenke, das Herz und der Kopf explodieren, weil das so unfassbar unselbstverständlich und auch immer noch ein Stück weit un.begreiflich ist!

Und dann: Sie leben. Die Zwillinge. Weil sie eine Schwangerschaft überlebt haben, in einem trauma-beschriebenem Körper, in einer Gebärmutter, die ab der 12. Woche Wehen produziert hat, eine Schwangerschaft, in der eine Viele-Mutter, ab der 17. Woche zum Liegen verdammt, immer wieder mit Erinnerungen an das erste verlorene Kind geflutet, zwischen Bindung und Freude auf die Kinder und Angst vor der Bindung und vor Verlust schwankend, versuchte, irgendwie ruhig zu bleiben, weil heftige Emotionen auch jedes Mal Wehen auslösten. Wir und die Kinder in uns überlebten am Ende vier Wochen Krankenhaus und die strukturelle Gewalt eines großen Kreissaals mit Massenabfertigung. Die Kinder überlebten eine viele zu frühe Geburt, wir überlebten einen Notkaiserschnitt mit Komplikationen. Es war traumatisierend für uns, diese heftige Zeit verfolgte uns. Aber das Tolle daran war: Dieses Mal ging alles gut aus. Dieses Mal hatten wir Hilfe. Das, was uns passiert ist, war letztlich erzählbar, es hatte Zeug*innen, es ließ sich mit EMDR verarbeiten und integrieren, und alles das ist jetzt „einfach“ ein Teil unseres Lebens. Etwas, was wir geschafft haben!

Ja, die Zwillinge leben. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass für ein zu früh geborenes Kind im Durchschnitt 100.000 Euro ausgegeben werden, bis es nach Hause entlassen wird. Unsere Kinder leben, weil unsere Gesellschaft sich entschieden hat, dass sie insgesamt 200.000 Euro dafür ausgeben will, dass unsere Kinder überleben dürfen. Ganz winzig kleine Menschen (A.‘s Handfläche war so groß wie mein Daumennagel), die außer in der Welt ihrer Eltern und Geschwister noch keine Lücken hinterlassen würden, durften leben. Die Zeit ihrer Geburt fiel in den Spätherbst 2015, als so viele geflüchtete Menschen nach Deutschland kamen. Und in der gleichen Gesellschaft, die sich entschieden hat, unsere Kinder überleben zu lassen, gab es so viele laute Stimmen, die die flüchtenden Menschen auf dem Mittelmeer sterben lassen wollten, sie in Not und Krieg zurück schicken wollten. Menschen, die schon einen Abdruck in der Welt hinterlassen haben, die Lücken hinterlassen, bei ihren Kindern, Eltern, Freund*innen. Ich weiß noch, wie unfassbar auch das für uns war. Dieser Gegensatz. Diese Willkür.

Wir haben so viel Glück. Wir sind so privilegiert. Und so beschenkt.

Ja, die Zwillinge leben! Und das schon seit vier Jahren. Und wir haben ihren Geburtstag gefeiert. Und ihre beiden glückstrahlenden Kindergesichter, ihr begeistertes Kinderlachen, inmitten ihrer Freund*innen, voll albern während der Schatzsuche, dieser Moment ist so unfassbar kostbar für uns, so groß, so normal, so nicht-jeden-täglich, so unselbstverständlich, so umfassend wundervoll, dass ich gar nicht weiß, wo in der Schatzkammer unseres kleinen großen Herzens ich den unterbringen soll.