Was ist Strafe?

Philosophischer Diskurs mit meinem vierjährigen Sohn beim Einschlafen.

[…]

Er: Was ist Strafe?

Plötzlich ziemlich laute Kommentare dazu in meinem Kopf. Und drastische Bilder. Ja, manche von uns hätten zu dem Thema einiges zu sagen.

Ich: Strafe, das geht so: Wenn ein Mensch einem anderen Menschen etwas antut, zum Beispiel ihm sehr wehtut, oder etwas Wichtiges von ihm kaputt macht, oder ihm etwas Wertvolles wegnimmt, und vor allem, wenn er das mit Absicht macht. Dann muss dieser Mensch das vielleicht bezahlen, und es so gut es geht wieder gut machen, und Strafe meint dann auch, dass dieser Mensch selbst auch etwas erleben soll, was für ihn schlimm ist, damit er das dann hoffentlich nicht nochmal macht.

(Yes, of course ist das verkürzt und kritiklos, aber mein Sohn ist erst vier und möchte gerade vor allem verstehen, wie die Dinge im Allgemeinen laufen.)

Er: Und wenn man ins Gefängnis muss, ist das dann auch eine Strafe?

Ich: Ja, sogar eine ziemlich schlimme. Stell dir mal vor, ich müsste ins Gefängnis, und könnte für eine lange Zeit nie bei euch sein, und müsste immer, immer in einem großen Haus eingesperrt sein, und vielleicht sogar meistens immer in einem kleinen Zimmer, und dürfte da nie raus, das wäre doch schlimm, oder?

Er nickt.

Ich: Ins Gefängnis müssen Menschen aber meistens nur dann, wenn sie etwas wirklich Schlimmes gemacht haben.

Er: Wenn sie Räuber sind und anderen Menschen etwas stehlen?

Ich: Ja, wenn sie dabei den Menschen große Angst machen, oder ihnen dabei weh tun, oder wenn sie sehr wertvolle Sachen stehlen.

Er: Und wenn Menschen andere Menschen töten?

Ich: Ja, dann müssen sie auf jeden Fall ins Gefängnis.

Innen läuft mittlerweile einiges an zynischen Parallelkommentaren. Ich versuche, sie zu ignorieren.

Er: Und wenn alle Menschen auf der ganzen Welt das machen würden, andere Menschen zu töten? Sind dann alle im Gefängnis? Und wer passt dann auf die Leute im Gefängnis auf? Und gibt es dann noch Polizisten?

Ich (mal kurz sprachlos): Äh…Ich glaube, wenn das wäre, dann wäre die ganze Welt wie ein schreckliches Gefängnis. Aber ich glaube, dass die allermeisten Menschen auf der Welt das wirklich nicht wollen, anderen Menschen so weh zu tun.

Er: Aber wir und andere Menschen, die wir liebhaben, die haben das noch nie gemacht, einen Menschen zu töten, oder?

Ich bin ein plötzlich abstürzender Fahrstuhl. Mein Magen dreht sich um, und mit uns stürzen Bilder über Bilder in den tiefen Schacht. Geräusche in meinen Ohren. Dröhnen im Kopf. Ich spüre, wie ich einfriere.

Mein Mund sagt: Nein, wir haben das noch nie gemacht.

Er kuschelt sich zufrieden in meinen Arm, und schläft sofort ein.

Ich halte mich an ihm fest, am Hier, an seinen tiefer werdenden Atemzügen, am Duft seiner Haare, an seiner kleinen Wärme. Und kämpfe gegen die von innen anbrandenden Wellen. Und ich weiß, es gibt keine einfachen Antworten auf seine letzte Frage. Und fürchte mich vor dem Tag, an dem er alt genug ist, schwierige Antworten zu hören. Wird es dafür je einen richtigen Tag geben? Und wird es jemals richtige Antworten geben? Und können wir angesichts solcher Fragen überhaupt richtig handeln?