Müttertag

„Right from the moment of birth the mother is not alone in her responsibility for the child. Each and every other can nourish and look after the child.“

„Vom Augenblick der Geburt an ist die Mutter nicht allein in ihrer Verantwortung für das Kind. Jede_r andere kann das Kind nähren und auf es achtgeben.“

Sobonfu Somé

Muttertag war für uns bisher meistens ein schmerzhaftes Datum. Für uns markiert er als Gedenktag vor allem eine Leerstelle und den Schmerz von etwas, das so sehr gefehlt hat, obwohl es existenziell gebraucht wurde und ersehnt war. Zeitlebens war da dieses Loch in uns, das sich immer mehr wie ein schwarzes, alles verschlingendes Loch anfühlte. Zeitlebens war da diese unerklärliche Sehnsucht, und wir fühlten uns wie eine Waise, was uns und Außenstehenden vollkommen unverständlich schien, denn wir hatten ja eine Mutter. Noch bis ins Erwachsenenalter hinein, und wenn wir ehrlich hinschauen, dann sogar heute noch manchmal, gab es diese Suche nach einer neuen Mutter. Und die Schuldgefühle der realen Mutter gegenüber. Und diese unausrottbare Liebe für diese Mutter, und die unaushaltbare, zerstörende Hoffnung, eines Tages doch noch wirklich gesehen und um unser selbst willen geliebt zu werden von dieser Mutter.

Unser bester Umgang mit diesem Datum war ignorieren oder uns darüber lustig machen. Das ist ja auch leicht – Muttertag als internationale Institution ist ja eines der besten Beispiele für einen guten Impuls, der dann kapitalistisch und politisch angeeignet und vollkommen verdreht wurde und wird.

Seitdem wir selbst eine Mutter sind, klappt ignorieren nicht mehr. Weil sich immer irgendwer findet, di*er uns an dem Tag per social media oder im ganz echten Leben zu diesem Umstand gratuliert. Und klar, wir haben uns entschieden, gleich mehrere Menschen in diese Welt zu bringen, Schwangerschaften mit allen Höhen und Tiefen zu durchleben, und Verantwortung für diese Wesen zu übernehmen. Überhaupt kein kleines Ding, und vielleicht das krasseste, für was wir uns je entschieden haben. Aber der bloße Umstand, eine Mutter zu sein, macht aus keiner Person eine Heldin. Denn wir wissen ja aus eigener Erfahrung, wie schrecklich mensch diesen Job machen kann, und wie viel Leid daraus entstehen kann.

Gestern hat eine Freundin mich eingeladen, heute gemeinsam am Feuer zu sitzen, und uns gegenseitig von unserem Muttersein zu berichten, uns selbst und gegenseitig wertzuschätzen für das, was wir spezifisch als jeweilige Mutter leisten und gut hinkriegen, und uns von unseren Müttern zu erzählen. Und diese Einladung hat uns berührt.

Ich habe gemerkt, dass ich gern von unseren Müttern erzählen möchte: Von all den Frauen, von denen manche, aber nicht alle, Kinder hatten, und die, manchmal ohne es zu wissen, uns eine Zeit lang auf die eine oder andere Art begleitet haben, die wir innerlich ein bisschen als Sehnsuchtsmütter adoptiert haben, und die so zu vielen kleinen und größeren Lichtern auf unserem Weg wurden. So wie die Erzieherin im Kindergarten, bei der wir viel körperliche Nähe suchten, und die zu uns hielt, wenn wir anstrengend, verwirrend, widersprüchlich, gewalttätig, zornig und untröstlich waren, und die uns mindestens einmal in einem stummen, eingefrorenen Zustand ewig lang auf dem Arm herumtrug. Wie die Mutter einer Grundschulmitschülerin, die wir gern als Freundin gehabt hätten, mit den freundlichen Lachfalten um die Strahleaugen herum, die auf einem Schulfest als liebenswerte, ungruselige, nahbare Clownin zu uns in die Klasse kam, und die nicht nur für ihr eigenes Kind, sondern für alle Kinder so viel Wärme, Herzlichkeit und Verständnis zu verstrahlen hatte, dass wir das sogar aus der Ferne spüren konnten. So wie Astrid Lindgren, die Bullerbü als Traumort, Ronja als Seelenschwester und mit Lovis eine starke, freigebende, fühlende Mutterfigur in unser Hirn und Herz brachte. So wie die Reitlehrerin, die für jeden Quatsch zu haben war, uns manchmal zu sich mit nach Hause nahm, und die nicht aus uns herausbekam, warum wir sie eines Tages tatsächlich fragten, ob wir nicht bitte bei ihr einziehen könnten, und die diesen Wunsch mit spürbarem Bedauern und nach etwas Nachdenken ablehnte, und sich danach nicht vor uns, dem immer zu viel fordernden Kind und dann wieder ablehnenden Kind, zurückzog. Und so wie die Vertrauenslehrerin, die sich als erste Person nicht von der Fassade des perfekten Elternhauses blenden ließ, die nicht ruhte, bis wir in der Klinik waren, die währenddessen Kontakt zu uns hielt, und bei der zuhause und mit ihren Kindern wir in der Folgezeit mehr Zeit verbrachten als in unserem eigenen Zuhause, und hin und wieder sogar eine Nacht auf dem Sofa. Und die uns als chaotische, unordentliche, manchmal impulsive und herrlich imperfekte Mutter insofern ein Beispiel für eine liebende Mutter war, weil sie ihre Kinder als Menschen ernst nahm und gerade wegen ihrer Unzulänglichkeiten wertschätzte. Sie konnte sich leidenschaftlich über Ungerechtigkeiten aufregen, und wir waren über die Jahre nicht ihr einziges Sorgenkind, und doch war sie die Person, von der ich lernte, dass in allem auch etwas Gutes stecken kann, dass es Werte gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt, und dass man manchmal einfach mitten drin im Elend loslachen kann, über sich selbst und alles.

Wir hatten das Glück, im Jahr 2016 noch Sobonfu Somé kennenlernen zu dürfen, bevor sie 2017 starb. Sobonfu Somé war eine spirituelle Lehrerin vom Volk der Dagaare aus Burkina Faso, die in Europa und den USA Seminare gab, in denen es vor allem um Gemeinschaftssinn und Rituale ging. Sie erzählte von den Big Mamas in ihrer Kultur: Das kann jede Person sein, die sich auch um Kinder kümmert und die eine Haltung des Kümmerns und der Mitverantwortung verkörpert. Dadurch, dass die Big Mama als Rolle fest in der Kultur der Dagaare verankert ist, sind Eltern und Kinder entlastet und stärker in einer größeren Gemeinschaft eingebunden.

Diese Frauen haben einen Unterschied gemacht in unserem Leben, und aus ihren Vorbildern speist sich das innere Bild, aus dem heraus wir versuchen, selbst Mutter für unsere Kinder zu sein, und auch immer mal wieder eine Big Mama, wenn die Kraft dafür reicht. „Mutter sein“ – dieses Sprachbild ist für uns einseitig und sehr verkürzt. Eine Mutter werden wir mit jedem Tag, an dem wir die Beziehung zu unseren Kindern pflegen, an dem wir mit ihnen lernen, an dem wir aktiv teilhaben an dem, was sie beschäftigt, an dem wir all die kleinen, oft stupiden, sich wiederholenden Dinge tun, die zu ihrer Versorgung beitragen, an dem wir Fehler machen, ungerecht und ungeduldig und verletzend sind und uns entschuldigen. Zum Beispiel.

Oder vielleicht ist das auch noch nicht ganz richtig, und wir werden eine Mutter durch das existenzielle Grundvertrauen und den Bindungswillen und die Bindungssehnsucht, ja, die Liebe, die neugeborene Menschen in ihr Sein mitbringen – und das ist ein Privileg und ein Geschenk, und wir bleiben diese Mutter, wenn wir nie vergessen, wie kostbar dieses Geschenk ist, und wenn wir dem kleinen Menschen mit Achtung begegnen.

Wir schreiben an dieser Stelle von biologischer Mutterschaft, weil es unsere Perspektive ist. Aber das Geschriebene gilt für alle, die sich einem Kind so annehmen, dass die Wunderkraft, vertrauen zu können, zu wollen (und zu müssen) eines Kindes sich an sie bindet, und die dieses Geschenk zu würdigen wissen und vor allem beantworten und da sind.

Wir haben immer nach einer Mutter gesucht, und dabei die eine oder andere Big Mama gefunden, zumindest für eine Weile. Ich glaube, es ist Zeit, dass wir uns den Müttertag zurückerobern als einen Tag, an dem wir all die Big Mamas in der Welt feiern – die Menschen, die einen Unterschied machen, weil sie sich auf ihre jeweils eigene Weise kümmern.

Heute vor 40 Jahren war ein ganz normaler Samstag

Heute vor 40 Jahren war ein ganz normaler Samstag. Und heute vor 40 Jahren trug meine Mutter schwer an mir. Wie sich das wohl für sie angefühlt hat? Wie war es wohl für sie, dieser große Bauch, das darin strampelnde Kind, in dem Bewusstsein, dass es jederzeit so weit sein kann? Wie war es, Mutter einer „Erstgeborenen“ zu sein, Mutter einer Tochter eines hohen Rangträgers? Hatte sie überhaupt das Gefühl, dass ich ihr Kind war? Liebte sie mich? Oder hatte sie Angst?

War es so, dass ich kommen durfte, wann ich wollte, und dass es der Zufall wollte, dass ich dann an einem bedeutsamen Tag, an einem hohen Feiertag innerhalb der Bedeutungszusammenhänge der ideologischen Gruppe, in die ich hinein geboren wurde, meine Nase zum ersten Mal in diese Welt steckte? An einem Tag, der für die meisten Menschen in der westlichen, christlich geprägten Welt ebenfalls mit Bedeutung versehen ist. Ein Jahreswechsel.

Oder war das auch, wie so vieles andere, kein Zufall?

Stimmt die Version, in der morgen vor 40 Jahren abends spät die Wehen heftig losgingen, und in der mein Vater meine Mutter in halsbrecherischer Fahrt in die Klinik brachte, über vereiste Straßen, vorbei an drei Blitzeis-Unfällen, die mein Vater allesamt ignorierte? Und in der dann, um zehn Uhr abends, plötzlich die Wehen wieder aufhörten, so dass das Personal meinen Vater wieder heimschicken wollte? Und dann kam „ich“, so wurde es anderen hier erzählt, in ziemlicher Windeseile in den frühen Morgenstunden.

Unsere Geburtsurkunde sagt, dass „ich“ in diesem Krankenhaus und zu dieser bestimmten Uhrzeit geboren wurde, und es gibt in unserem Kinderfotoalbum auch ein blasses Polaroid, mit (m?)einer ungeschminkten, erschöpften, lächelnden, irgendwie entrückt und überrumpelt wirkenden Mutter und einem Baby im Arm. Das bin vermutlich „ich“.

Ganz sicher können wir uns nie sein, was wirklich war in dieser Familie und in unserem Leben, und was Inszenierung.

Ziemlich wahrscheinlich ist – weil manche von uns es später selbst gelernt haben, und auch dabei mitgeholfen haben – , dass versucht wurde, die Zeugung auf einen günstigen Zeitpunkt zu legen, und dass die Wehen dann künstlich ausgelöst wurden, um das „richtige“ Datum zu erreichen.

Und oh, wie war dieses Datum richtig. Wie waren die Zahlen günstig, in immer wieder anderen Jahres- und Monatszusammenhängen. Wie hat diese „Bestimmung“, genau an diesem Tag, in genau diesem Jahr geboren worden zu sein, uns so besonders gemacht, so besonders verpflichtet, bestimmte Dinge zu lernen, bestimmte Opfer zu bringen, auf so besondere Art gefördert zu werden, auf so besondere Art vernachlässigt zu werden, auf so besondere Art benutzt zu werden, uns auf so besondere Art zu verwickeln in ALLES. Und wie hat es uns, in a wicked way, auch geschützt.

Die Zahlen-Ideologie, die verknüpft ist mit dem allen, sitzt tief in uns drin. Wir nehmen bestimmte Zahlen und Daten noch immer wahr, stellen Bedeutung her, wo andere nur Ziffern sehen. Das ist, wenn es uns bewusst wird, schmerzhaft, aber mittlerweile ist es ein kurzes Realisieren, dass es so ist, und dann ein bewusstes Loslassen, oder zumindest ein erfolgreiches Ignorieren davon. Wobei es noch immer, manchmal, und an manchen Orten in unserem System, zu bestimmten Zeiten eine erhöhte Aufmerksamkeit gibt, ein gespanntes Warten auf weitere Zeichen, eine Bereitschaft, eine Hoffnung auf einen Ruf. Und auch das schmerzt. Aber es ist gut, dass es schmerzt, denn Schmerz bedeutet Bewusstheit und Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit.

Wir sind nicht um unserer selbst willen in dieser Welt empfangen worden. Wir wurden für die Verwirklichung und die Befriedigung von anderen gezeugt. Und doch glaube ich, dass etwas in meiner Mutter uns liebte. Und ich glaube, dass etwas in ihr ganz genau wusste, dass es sich nicht lohnte, sich zu sehr an dieses Kind zu binden.

Übermorgen, also, WIRKLICH übermorgen, werden wir nun 40! Jahre! alt. Für manche von uns fühlt sich das wie Science Fiction an, dass wir plötzlich in der Zukunft sind. 2020 zu erleben, wo wir doch sicher glaubten, es nicht mal bis zur Jahrtausendwende zu schaffen! Für mich und alle die, die weitestgehend den Alltag bestreiten, ist das ein Grund zum Feiern, weil nun ein Lebensjahrzehnt für uns beginnt, auf das wir uns schon lange freuen. Während unserer Jugend und frühen Erwachsenenzeit gab es immer wieder Frauen, die uns buchstäblich das Leben gerettet haben, die uns Vorbilder wurden in verschiedenen Lebensbereichen, die den Unterschied für uns gemacht haben. Alle diese Frauen waren in ihren 40ern, und wir haben sie als kraftvoll und lebensklug wahrgenommen. Das waren Frauen, die schon einiges durchgekämpft hatten, die manches einfach nicht mehr nötig hatten, die noch viel Kraft und Energie hatten, aber auch Gelassenheit. Unser Leben ist oft nicht leicht, aber es hat schon manches von diesen Qualitäten mittlerweile, und wir freuen uns darauf, sie im nächsten Jahrzehnt weiter zu entwickeln. Und hoffentlich auch an manchen Stellen den Unterschied zu machen.

So war das nicht gedacht, als wir vor 40 Jahren noch im Bauch unserer Mutter schwammen, aber: Heute bestimmen wir unser Leben selbst.