Erstmal’n Kaffee

„Und alles Gute Ihnen noch!“ „Ja, Ihnen auch.“ Ich lege den Telefonhörer auf. Meine Hände zittern, ich spüre in uns das Bedürfnis, uns zu schütteln, ein irres Kichern und sage laut: „Ich mach uns jetzt erstmal’n Kaffee!“

Eigentlich geht es um die Frage, wie arbeitsfähig wir wirklich sind. Und um die Frage, ob wir eine Teilerwerbsminderungsrente beantragen können, und wenn ja, ob sich der Aufwand überhaupt lohnen würde. Dafür war nun eine Kontenklärung bei der Rentenversicherung notwendig.

Und dafür hatten wir heute eine telefonische Beratung. Wir wussten grob, dass wir vorher am besten alle Informationen zusammengetragen haben sollten, die unseren Lebenslauf ab dem 17. Lebensjahr abbilden, mit allen Ausbildungs- und Arbeitszeiten, und mit den Geburtsdaten unserer Kinder. Da wir den Termin gestern bekommen haben, hieß das, uns seit gestern durch Aktenordner zu wühlen. Ein spontaner trip down memory lane.

Unser Abiturzeugnis. Wir waren doch da schon mal eingeschrieben für ein Studium, haben wir davon noch irgendwelche Unterlagen? Waren diese und jene Jobs jetzt eigentlich meldepflichtig? Einige Unterlagen sind einfach nicht auffindbar. Und zwischen den anderen überall diese Schnipsel. Alte Kontoauszüge mit Unterhaltszahlungen der Herkunftsfamilie drauf. Gerichtsurkunden. Anwaltsschreiben. Schreiben von früheren Unterstützer*innen. Eine Streiterei mit der ehemaligen Krankenkasse über Zuzahlungsbefreiungen. Erinnerungen an sehr schwere Zeiten. Erinnerungen an Angst und Chaos und Überleben und irgendwie Durchfriemeln. Auf jeden Fall keine Ordnung.

Und dann das Telefonat. Eine freundlich-distanzierte Stimme am anderen Ende. Vor lauter Aufregung war unsere vorbereitete Liste erst nicht auffindbar. Irritation und leichte Ungeduld am anderen Ende. Und dann ein sachliches Abarbeiten von allen „Lücken“. „1.1.1996-3.9.1999?“ „Da war ich noch in der Schule. Ich habe Sommer 1999 Abitur gemacht.“ „Das brauche ich aber genauer!“ Stress bricht aus. Hektisches Suchen nach dem Abiturzeugnis. Wir finden da ein Datum drauf gedruckt. Lücke für Lücke geht es weiter, und ich versuche, die Orientierung zu behalten. Wann war nochmal welcher Job? Wann genau war der Beginn von dieser Ausbildung? Und immer wieder: Keine (Er-)Klärung möglich. „Ok…noch eine Lücke.“ sagt die Stimme am anderen Ende. Ich kann hören, wie sie sich im Kopf eine Meinung bildet über mich/uns. Immer wieder „Ja, ich brauche das schon etwas genauer!“ Wir haben keine Immatrikulationsbescheinigungen mehr von unseren ersten beiden Studierversuchen. Wir haben auch keine Bescheinigung über die Beendigung des Vertrags des ersten Ausbildungsversuchs. Und immer wieder „Ok, dies, das – aber ohne Abschluss, oder?“

Irgendwann hätte ich am liebsten in den Hörer geschrien: Ja, verdammt! Ich war damals mit Abtauchen beschäftigt, mit Überleben, mit irgendwas aufbauen, und ja, verdammt, das mussten wir immer wieder abbrechen, weil wir Orte wechseln mussten, weil wir zwischendurch nicht mal ne Wohnung hatten, und ja, selbst die Sozialhilfe ist uns damals monatlich in bar ausgezahlt worden, weil es nur so ging, dass die Erzeuger*innen uns nicht gefunden haben, und deshalb ja, haben wir auch da ne verdammte Lücke und keine Ansprüche erworben!

Irgendwann gab es dann „Ordnung“. Das Psychologiestudium. Das wir durchgezogen haben, mit Abschluss. Und die drei Kinder. Unser Telefongegenüber entspannte sich hörbar. Dass unsere Freiberuflichkeit auch eine gewisse Unordnung hat, dass wir auch nirgendwo anders eingezahlt haben bisher und daher seit dem Abschluss auch fast null Rentenansprüche irgendwo erworben haben, das war nur in uns parallel Thema. Dass wir nie arbeitssuchend gemeldet waren, weil es uns so große Angst gemacht hat, in diese unsichtbare, gesichtslose Struktur gezogen zu werden. Das wir uns, zwar auf einer viel sortierteren Ebene, in gewisser Weise immer noch so durchfriemeln.

Wir werden Post bekommen, wir werden einige Unterlagen noch einreichen müssen. Wir müssen nochmal vertiefter in den Aktenordnern wühlen.

Aufgelegt. Zitternde Hände, das Bedürfnis, uns zu schütteln, der Versuch, es mit irrem Kichern und Galgenhumor im Innen in den Griff zu bekommen. Ich sitze am Schreibtisch, starre nach draußen, und lasse (mal wieder) die Erkenntnis sacken, dass wir manches einfach nicht loswerden. Die verpassten Jahre, in denen wir nicht kontinuierlich lernen und arbeiten konnten. Die Lücken im Lebenslauf, die sich so schwer erklären lassen. Das gruselige Gefühl, das eigene Leben nicht richtig zu erinnern und zu fassen zu bekommen. Der Geburtsname, der dann doch immer wieder auftaucht und genannt werden muss. Und vor allem das Gefühl, doppelt und dreifach drauf zu zahlen: Erst durch die (üb)erlebte Gewalt, dann durch die Armut, die durch die Folgen davon und durch die Bedrohung ausgelöst wurden, jetzt noch immer durch die verminderte Arbeitsfähigkeit und Belastbarkeit, und durch all das Geld, was wir für Therapien, Medikamente usw. verlieren, und in Zukunft dann auch noch durch die vorprogrammierte Altersarmut.

Darauf hab ich uns erstmal nen Kaffee gemacht.

Und: Respekt und Solidarität gehen raus an alle da draußen, die noch weniger Chance hatten als wir, die gar keine Ansprüche irgendwo erwerben können oder dürfen, die keinen Abschluss erzielen konnten, der den Anschein von „geordnet im System“ sein ermöglicht, die ständig die Entwürdigung erleben, „nichts vorweisen zu können“, die sich immer und ewig rechtfertigen müssen für ihr Sein, und die immer wieder neu ihrer Würde beraubt werden.

Podcast „Viele Leben“ – Folge 1 mit uns

Der letzte Eintrag hier auf unserem Blog war eine Stellungnahme zu dem Film „Ich bin Viele“ aus der ZDF-Reihe 37°. Mit dieser Form der Berichterstattung haben wir uns offensichtlich nicht wohl gefühlt. Umso mehr freut es uns, dass Hannah C. Rosenblatt ein neues Podcast-Format kreiert haben, bei dem es darum geht, viele verschiedene Facetten des Lebens mit einer DIS, mit dem Vielesein, zu beleuchten. Und zwar von Betroffenen für Betroffene und für alle, aufwändig und professionell produziert, und auf Augenhöhe. Es hat den schlichten und schönen Namen „Viele Leben“. Wir wussten das gar nicht, aber wir hatten nun die Ehre, die Interviewpartner*innen für Folge 1 zu sein, welche sich hier findet.

Das Gespräch wurde schon vor zwei Jahren aufgezeichnet, aber es ist noch total aktuell. Wir erzählen davon, wie wir als Viele Eltern geworden sind, wie wir schwanger wurden, wie wir die Schangerschaften erlebt haben, wie die erste Zeit mit den Kindern war, und wie wir unser Leben mit Kindern organisieren. Unser Vielesein ist dabei einfach als Grundtatsache vorhanden. Das Interview war für uns selbst auch spannend – es war erhellend, das alles mal so zusammengefasst zu beleuchten und zu reflektieren. Und Hannah hat uns superschöne Fragen gestellt – wenn ihr das lest, vielen Dank dafür!

Das Format ist wirklich schön, und wir finden es wichtig, weil wir es wichtig finden, dass Menschen, die Viele sind, in ihrer ganzen Vielfalt sichtbar werden können. Mit unseren Einschränkungen und unseren Kämpfen, aber auch mit allem, was uns wichtig ist im Leben. Damit es jedoch damit weitergehen kann, und es noch mehr Einblicke in Viele Leben geben kann, braucht es Spenden, um die weiteren Folgen zu finanzieren. Auf dieser Seite finden sich verschiedene Möglichkeiten, das Projekt zu unterstützen.

Wir freuen uns, wenn ihr den Podcast hört, und wenn ihr mögt, hinterlasst doch ein paar Gedanken dazu in den Kommentaren!

Merci!

Stellungnahme/Kritik zum Film „Ich bin Viele“ aus der Reihe 37°

Vor einer Woche, am 2.8.2022, wurde im ZDF der im Titel genannte Dokumentarfilm gezeigt. Er ist weiterhin in der Mediathek abrufbar. Er ist ein Portrait einer einzelnen Person, die Viele ist. Leider entspricht dieser Beitrag überhaupt nicht dem, was wir uns von einer Doku über DIS erhoffen. Daher verlinken wir den Beitrag auch nicht hier, weil wir keine WErbung für ihn machen möchten, aber falls ihr Lesenden ihn nicht kennt und gern anschauen möchtet: Er lässt sich in der Mediathek leicht finden.

Wir sind Teil einer Intervisionsgruppe von Viele-Menschen, die im psychosozialen Bereich berufstätig sind, und gemeinsam mit dieser Gruppe haben wir folgende Stellungnahme verfasst, weil wir es einfach nicht hinnehmen wollen, wie über DIS in den Medien berichtet wird:

Stellungnahme/Kritik zum Film „Ich bin Viele“ aus der Reihe „37°“, gesendet am 02.08.2022 und in der ZDF-Mediathek

Aus der Sicht weiterer betroffener Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS)

Der oben genannte Film ist das Portrait einer einzelnen Person mit einer DIS. Als selbst betroffene Personen schauen wir solche Dokumentationen natürlich mit besonderer Neugier an – und auch mit besonderer Hoffnung darauf, das Thema DIS auf achtsame und informative Weise in die Öffentlichkeit gebracht zu sehen. Denn die DIS ist bis heute eine der psychischen Erkrankungen, über die im öffentlichen Bild besonders viele Mythen und Vorurteile existieren, von der völligen Ableugnung der Validität des Störungsbildes an sich, über meist schauerliche Darstellungen in Spielfilmen, bis hin zu einer gewissen Faszination, die sich in meist emotionalen und unter Umständen voyeuristischen Darstellungen von möglichst vielen Persönlichkeitswechseln ausdrückt. Alle diese Arten von Darstellungen sind für uns Betroffene jedoch stigmatisierend, da sie nur ganz bestimmte Aspekte des Störungsbildes darstellen und damit an der Realität einer großen Gruppe von Betroffenen vollkommen vorbeigehen. In unserem Alltag müssen wir so immer wieder Kämpfe um Glaubwürdigkeit, Anerkennung und Augenhöhe ausfechten, die belastend und unnötig wären, wenn das Störungsbild insgesamt realistischer dargestellt wäre.

Leider hat dieser Film unsere Hoffnungen enttäuscht.

Stattdessen drängt sich uns als Betroffenen der Eindruck auf, dass nach Bildern gesucht wurde, die in den Zuschauer*innen möglichst viele Emotionen wecken sollen. Wenig nachvollziehbar beispielsweise ist die Fokussierung und Kürzung des Materials mit überwiegendem Blick auf den Moment von Persönlichkeitswechseln und eine kindliche Innen-Person, der filmerisch eine vorherrschende Rolle in der Alltagsgestaltung eingeräumt wird. Hier werden weder die Komplexität des Störungsbildes noch die bestehenden Kompetenzen der Betroffenen ansatzweise gewürdigt. Im Instagram-Profil der Betroffenen (Sabrinas) sowie auch in den Shownotes in der Mediathekseite wird deutlich, dass ihre erwachsene Kompetenz wesentlich stärker ausgeprägt zu sein scheint, dass beispielsweise Wechsel unter den erwachsenen Alltags-Innenpersonen weit weniger augenfällig sind, und sie durchaus in der Lage ist, trotz der DIS und weiterer, schwerwiegender körperlicher Einschränkungen berufliche Kompetenzen zu entwickeln und auch in irgendeinem Ausmaß professionell zu arbeiten. Kurz gefasst lässt sich dieser Film paraphrasieren: Menschen mit einer DIS verhalten sich kindlich, erinnern sich nicht daran und benötigen anhaltend eine 24-Stunden-Betreuung. Die möglicherweise auch den Assistenzbedarf mit bedingenden körperlichen Erkrankungen sind in diesem Zusammenhang nicht weiter thematisiert, was neuerlich zu einer unangemessenen Reduktion führt. Wünschenswert wäre eine Darstellung, die insgesamt die innensystemübergreifende Lebenskompetenz der Betroffenen darstellt, insbesondere in einem vergleichsweise gut recherchierten und finanzierten Format, wie es 37° sonst üblicherweise ist.

Als besonders schwierig aus verschiedenen Gründen empfinden wir den Beitrag des professionellen Trauma-Experten Ulrich Sachsse. Seine lapidare Erklärung der Entstehung der Störung, dass die Störung auf schwerer Gewalt beruhe, und dass ein Kind, dem dies geschieht, „sich vormacht“, dass es einer anderen Person geschehe, und dass auf diese Weise die traumatischen Erfahrungen auf verschiedene Selbstzustände aufgeteilt würden, ist eine fast schon fahrlässig zu nennende extrem verkürzte Darstellung. Auf diese Weise entsteht ein Eindruck von bewusstem Handeln auf Seiten der Opfer, der die reale Gewalt und Einflussnahme durch die Täter*innen und die insgesamte Komplexität des Geschehens völlig verleugnet.

Des Weiteren wird das Thema Gewalt, in seinem ganzen gesellschaftlichen Kontext, im gesamten Beitrag nur nebensätzlich erwähnt, übrig bleibt vorrangig nur eine Fokussierung auf dem Leiden der Betroffenen. Wir sehen es dabei auch nicht als Aufgabe der Protagonistin an, über erlebte Gewalt sprechen zu müssen, aber es fehlt zumindest ein kurzer Hintergrund dazu, und es fehlt vollkommen eine Einordnung in gesellschaftliche Kontexte.

Unklar bleibt bis zuletzt, was das Ziel dieses Beitrages ist. Nicht zu vergessen ist, dass es sich hier um einen Beitrag im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit einer großen Reichweite und einem diversen Pool an Adressat*innen handelt, so dass wenig nachvollziehbar ist, wie ein nur so kleiner Ausschnitt ohne Verweis auf das sehr viel breitere Spektrum und Bild von Menschen mit einer DIS gezeigt wird? Viele Betroffene mit einer DIS sind sehr funktional in ihrem Alltag, arbeiten in Vollzeit, sind in der Lage, funktionierende soziale Beziehungen zu unterhalten, sind zum Teil sehr kreativ. Gleichzeitig ist diese Stabilität – wie ja auch in dem Beitrag durchaus deutlich wurde, denn auch die Sabrinas waren früher in der Lage, zu studieren und als Lehrerin zu arbeiten – keine Selbstverständlichkeit, und es ist für sehr viele Betroffene ein ewiger Kampf, Anerkennung für ihre Einschränkungen und die benötigte Unterstützung in Form von fachkundiger therapeutischer Langzeit-Therapie zu erhalten. Es gibt zu wenige ausgebildete Traumatherapeut*innen mit Kassensitz; wird ein Therapieplatz gefunden, so ist die Finanzierung der benötigten Anzahl an Stunden ein andauernder, belastender Kampf. Über die Dissoziative Identitätsstruktur in all ihren Ausprägungen und in all den Schwierigkeiten, mit denen sowohl hochfunktionale als auch stark unterstützungsbedürftige Betroffene im Alltag wirklich zu kämpfen haben, könnten so viele Aspekte erzählt werden.

Sollte es das Ziel sein, ein breites Publikum mit einer schweren Lebensgeschichte zu unterhalten, „Das Faszinosum Mensch mit DIS“? Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass hier mit realem Schrecken und Gewalt „Unterhaltungsfernsehen mit Quote“ gemacht wird, ohne dass eine auch nur ansatzweise angemessene Reflexion dieser ja auch noch tagtäglich in unserer Gesellschaft stattfindenden Gewalt erfolgt. Dies ist bitter und schier nicht zu fassen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Bekanntwerdens der Verbrechen in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster und der unverändert so immens hohen Dunkelziffer.

Wir als Menschen, die auch Viele sind, distanzieren uns von dieser Form von einseitiger, immer wieder gleicher Berichterstattung zu Lasten der Betroffenen. Auch wenn dieser Beitrag als Portrait eines einzelnen Menschen mit DIS angelegt ist, wurde mit diesem Beitrag (erneut) die Gelegenheit verschenkt, komplexer, tiefgehender und vielfältiger, aber vor allen Dingen auf Augenhöhe mit den Betroffenen über die Dissoziative Identitätsstruktur zu berichten.

Unterzeichner*innen: Intervisionsgruppe von Menschen mit DIS, die im psychosozialen Bereich berufstätig sind

Kontaktadresse: someofmany@posteo.de

DIS = die Sollbruchstelle an Stelle des Ichs

Die Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung haben wir irgendwann in 2001 bekommen, so ist zumindest die interne Geschichtsschreibung. Seitdem sind wir einen sehr, sehr langen Weg gegangen. Mit uns, mit dem Verstehen dieser „Diagnose“, mit dem Anerkennen und Begreifen und auch, immer wieder und ja, auch immer noch, mit dem Zweifeln.

Unsere Ziele haben sich seit der Zeit der ersten Auseinandersetzung mit dem „da-sind-noch-andere-in-mir (!???!?)“ sehr verändert. Zunächst ging es um Fragen, Zweifeln, um was-ist-da-noch?, dann um eine Anerkennung davon, dass unsere Biografie so wie gedacht nicht vollständig war, und um den Mut, so viel hinsehen zu können, um zu realisieren, dass wir weiter Gewalt erfahren, und dass wir auf dem besten Wege waren, das entweder nicht mehr zu überleben oder uns vollständig über eigene Schuld zu verstricken. Dann ging es jahrelang um Sicherheit. Um eine neue Chance in der Anonymität. Und immer nur um Über-Leben. Immer noch nicht zu genau hinschauen. Ringen um das Hin- oder Wegschauen.

Aber es gab auch schon immer eine Parallelspur. Ein Mehr-Wollen als nur Überleben, auch wenn das zeitweise nur von einzelnen von uns getragen werden konnte. Ein Sehnen nach dem Platz für uns in der Welt, ein Ahnen, dass da doch mehr sein muss als diese Leere, dieses Sollbruchstelle-Sein.

So lange machen wir schon Therapie, so lange versuchen wir zu verstehen, zusammen zu bringen, mehr miteinander als gegeneinander zu laufen, und ich glaube, erst im Laufe dieses Jahres haben wir zu verstehen begonnen, was das Ziel ist, um mehr in diesem Leben sein zu können: Es ist wichtig, dass wir lernen, weniger Sollbruchstelle zu sein. Dass wir weniger existieren mit den Freilassungen in uns drin; diese Freilassungen, die wir bereit halten, um sie von außen füllen zu lassen.

Wir wurden ja gemacht, um Sollbruchstelle zu sein.

Ein Selbst zu sein, das wurde ja als zu riskant empfunden (/das war zu riskant für die Täter*innen, und es war zu überwältigend für „uns“/den Selbstkern/das Ur-Ich, das wir mal waren), also mussten wir vom jeweiligen Moment füllbare „Ichs“ werden, die in ihrer Entstehung aber eben keine Ichs waren, sondern Reaktionen auf das, was die Umwelt/andere Menschen in dem Moment von unserem Sein forderten. Insofern sind alle diese „Ichs“ eher Spiegelungen des jeweiligen Moments im Außen, kein von innen gewachsenes echtes Ich. Und diese Spiegelung des Außen zu sein, das war der Grundimpuls in jedem Entstehen von jede_r_m von uns. Je länger ein „Ich“ in einem Raum sein kann, je mehr jedes „Ich“ ein Mehr an Erfahrung sammeln kann, desto mehr Dichte sammelt sich an, mehr echtes Ich-Sein.

Ein echtes Ich, so wie es in einer Person wachsen kann, die es niemals nötig hatte, so viel Raum für Außen in sich zu lassen, so viel Sollbruchstelle , weil sie erleben konnte, dass Brüchigkeit, Verletzlichkeit, Widersprüchlichkeit, Ambivalenz, Autonomie und Gefühle jeglicher Art spüren mit ausreichend bedingungsloser Liebe in einem ausreichend guten Rahmen gehalten wurde (so wie in einer hinreichend guten Kindheit eben), so ein Ich werden alle diese „Ichs“ für sich, und auch ein gesammeltes Ich aus der Vielzahl dieser „Ichs“, niemals sein. Das glaube ich einfach nicht mehr, wenn ich sehe, was bis hierher in unserem Leben möglich war. Und das ist ja schon vergleichsweise viel.

Wegen dem Grundimpuls der Spiegelung des Außen.

Weil jedes dieser „Ichs“ im Grunde eine vernarbte Sollbruchstelle ist.

Und weil da, wo bei anderen eine Art Kern des Ichs ist, bei uns eine grundsätzliche Leere ist, eine Bereitschaft, sich von Außen füllen zu lassen.

Wir sollten mit Sicherheit aufhören damit, zu versuchen, ein echtes Ich wiederherzustellen, wobei wiederherstellen ja auch bedeuten würde, dass es das überhaupt schon einmal gab, oder uns mit der Mimikry dessen so aufzureiben. Sondern nach den Wegen zu suchen, zu lernen, unsere Bereitschafts-Leere mit so viel gut-genugem Leben zu füllen, dass die Leere dicht genug wird, und dass die Sollbruchstellen weniger schmerzen.

Die Herausforderung, die wir annehmen sollten, ist, ein ausreichend stabiles Wir zu finden, und unseren Weg zu finden in einer Welt, die für echtes Ichs logisch ist und gemacht ist. Ausreichend dicht zu werden, dass wir unsere eigene Existenz spüren und nicht mehr in der Ich-Logik der anderen verschwinden.

Mit der Leere sein, und nicht mehr gegen sie ankämpfen.

Mit der Leere, und mit der Stille und dem Schweigen.

Und der Welt das Aushalten von Un-Logik (in deren Augen) zumuten.

Auch, wenn die Welt (noch) keinen Platz für etwas wie uns bereithält, sein. Denn es gibt uns ja.

Die Sache mit dem Ich

In der letzten Zeit beschäftigen wir uns ziemlich viel mit der Frage, was es eigentlich bedeutet, Viele zu sein. Inwiefern unterscheidet sich zum Beispiel unser Selbst-Konzept von dem einer Einzel-Person?

(Die Sache mit den richtigen Begriffen ist auch – naja, so eine Sache. Was ist denn zum Beispiel ein guter Begriff für einen Menschen, der sich im Gegensatz zu uns nicht als Viele empfindet? Wie so häufig gibt es für das, was als die Norm, als das Gegebene angesehene wird, gar keine Bezeichnung, weil es ja „einfach da“ ist. Das ist so wie mit dem Begriff „trans“ für alle, die irgendwie nicht in das zweigeschlechtliche Raster hineinpassen, und wo der Begriff „cis“ erfunden werden musste, um als Gegenüber von trans nicht „normal“ sagen zu müssen. Was ist also ein gutes Begriffsgegenüber für Vielesein? „Einzelsein“ könnte passen im Sinne von eine-einzelne-Identität-haben, auch wenn die natürlich auch kein statisches, immerwährendes Gebilde ist. „Wir sind ein Viele, du bist ein Einzel.“ Hmm. In Viele-Kreisen werden Einzels häufig auch als Unos bezeichnet. Davon mal abgesehen, dass die UNO ein ziemlich vielstimmiges Konstrukt ist, funktioniert der Begriff auch, wir mögen nur irgendwie den Klang nicht. Eins-Menschen? Nee, die nehmen wir auch nicht gerade immer als Eins-mit-sich wahr. Einzel als Bezeichnung finden wir hier gerade irgendwie witzig. Versuchen wir es also mal damit. Du kannst uns ja mal einen Kommentar hinterlassen, was für dich eine angenehme Selbst-Bezeichnung wäre, wenn du als das hier lesender Mensch ein Einzel bist.)

Kehren wir nun nach diesem kleinen Exkurs zum Thema Bezeichnungen aber wieder zum Thema zurück. Wir versuchen uns der Frage nach dem Ich oder Wir gerade lesend anzunähern. Unter anderem haben wir gerade „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“ von Richard David Precht am Wickel. Und hatten gerade viel Vergnügen mit dem Kapitel „Die Mach-Erfahrung. Wer ist ich?“ Mit Mach ist der Physiker und Allround-Wissenschaftler Ernst Mach gemeint. Der hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ich als „unrettbar“ postuliert, weil es nach seiner Überzeugung nur eine Illusion sei, die durch alle möglichen Empfindungen in Interaktion mit der Außenwelt entstehe. David Hume war schon 1739 ähnlicher Ansicht. Und wir so beim Lesen: „Ha! Es gibt gar kein Ich!“

Dann lässt Precht in dem Kapitel kurz die Psycholog*innen zu Wort kommen. Die sagen so ungefähr: „Jo, ein Ich lässt sich nicht messen, also gibt es das nicht so eindeutig. Aaaaaber – wir machen’s mal komplizierter, führen das Selbst ein, mit einem Selbst-Konzept (das ist so die Idee darüber, wer man so ist), und den Selbst-Wert (das ist so die Global-Bewertung darüber, wie man sich so findet, als die Person, die man ist.) Und für ein Selbst-Konzept muss man wahrnehmen, wie man handelt. Da braucht es also ein Ich, das handelt, und ein Ich, das dieses Handeln beurteilt.“ Voll schlau, auf diese Weise das Ich gleichzeitig umschifft und wieder eingeführt zu haben. Und wir so beim Lesen: „Hmmm…“ Precht benutzt die englischen Worte „I“ für das handelnde Ich, und „Me“ für das bewertende. Das sind ja wie zwei innerliche Instanzen, die aber trotzdem nicht das zusammenhängende Ich-Gefühl eines Einzels zu zerstören, sondern sich im Gegenteil gegenseitig ergänzen und gemeinsam das Selbst-Gefühl eher zu produzieren scheinen. An diesem Punkt besteht ein erster Unterschied dazu, wie sich das für uns anfühlt. Denn bei uns werden immer wieder Handlungen ausgeführt – sowohl im Konkreten, wie beispielsweise Milchschokolade mit Haselnüssen zu essen, obwohl der Körper das nicht sonderlich gut verträgt, und obwohl einige Innenpersonen wollen, dass wir vegan leben, als auch gedankliche Handlungen, wie zum Beispiel bestimmte Bewertungen von Situationen als gefährlich, die objektiv betrachtet ungefährlich sind, vorzunehmen – , die sich für mich als Alltag-managende Person in diesem System als komplett ich-fremd anfühlen. Und die nicht zu einer Stärkung des Kohärenz-Gefühls und somit zu einem klareren Selbst-Konzept führen. Und das erlebe ich laufend, und das gilt für Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Handlungen und sogar Körperempfindungen gleichermaßen. Wir haben im Alltag einen hohen Grad an Co-Bewusstsein, aber im Extremfall muss ich ja auch feststellen, dass in meiner Abwesenheit der Körper offensichtlich weiter in der Welt anwesend war und Handlungen vollzogen hat, an die ich anknüpfen muss und deren Konsequenzen ich tragen muss. Das ist dann der größte Bruch zwischen handelndem Ich und bewertendem Ich, weil das gefühlt dann nicht mal mehr in derselben Person stattfindet, obwohl es das ja offensichtlich tut. Und natürlich führen solche Erfahrungen zwangsläufig eben nicht zu einem Einzel-Selbst-Konzept, sondern zu einem Viele-Selbst-Konzept.

Weiter im Text. Die Hirnforscher*innen treten auf den (Prechts) Plan. Und die können, ganz verkürzt geschrieben, kein Ich irgendwo lokalisieren. Aber sie können, ausgehend von Menschen, die aufgrund von Unfällen oder Krankheiten spezifische Ausfälle des Hirns haben, verschiedene Arten von Unter-Ichs ausmachen: ein Körper-Ich, ein Verortungs-Ich, ein perspektivisches Ich, ein Ich-als-Erlebnissubjekt, ein Autorschafts- und Kontroll-Ich, ein autobiografisches Ich, ein selbstreflexives Ich und ein moralisches Ich. Wir so beim Lesen: „Woah!!!!“ (Echt lustig, weil wir das alles im Psychologie-Studium tatsächlich ja schonmal gelernt haben, aber es dort irgendwie nie so in einen Sinn-Zusammenhang gebracht haben…) Das Woah bedeutet übersetzt: Stimmt, so ein Ich-Gefühl ist auch bei Einzels ein komplexes System. Und das ist uns ja auch klar. (Sonst würden wir als Begriffs-Gegenüber das Wort „Simpel“ verwenden 😀 .) Aber uns wurde beim Lesen klar, dass sich für jede Innenperson in uns jede einzelne dieser Ich-System-Komponenten vollkommen anders anfühlen kann. Das Körpergefühl und überhaupt die Fähigkeit, den Körper wahrzunehmen, unterscheidet sich von Innenperson zu Innenperson, sogar bei den Alltagspersonen, die gut in Raum und Zeit orientiert sind. Auch die Wahrnehmungsperspektive ist bei uns öfter verschoben: Wenn ich beispielsweise von innen dabei zuschaue, wie eine andere Innenperson im Außen handelt, dann habe ich manchmal den Eindruck, neben, hinter oder sogar über dem Geschehen zu sein. Und was das alles mit unserem allgemeinen Empfinden von Erlebnissubjekt-Sein, Autorenschaft und Kontrolle und mit dem autobiografischen Empfinden macht, lässt sich vielleicht auch aus Einzel-Sicht vorstellen. Sobald ich jetzt aber das „Wir“ an die Stelle des Ichs setze, dann macht das alles wieder Sinn für uns. Wir haben ein Körper-Wir, ein Verortungs-Wir, ein perspektivisches Wir, ein Wir-als-Erlebnissubjekt, ein Autorenschafts- und Kontroll-Wir, ein autobiografisches Wir (das notwendigerweise immer noch ziemlich poly-biografisch ist), ein selbstreflexives Wir und ein moralisches Wir. Sobald wir uns erlauben können, ein Viele-Ich, also ein Wir zu sein, macht das alles wieder Sinn. Und nebenbei bemerkt funktioniert ja sogar unser Viele-Ich auf so kohärente Weise, dass wir unser Leben weitestgehend gut im Griff haben, und sogar auch als Einzel-Ich durchgehen können, wenn wir das wollen. Das kostet uns allerdings auf die Dauer sehr viel Energie.

Es gibt bei Precht einen Satz, der hat uns richtig angesprungen: „Für mein perspektivisches Ich kann ich wenig, es ist jedem normalen Menschen vorgegeben, ebenso das Körper-Ich.“ Das ist ein super Beispiel dafür, wie Menschen Sachen als gegeben hinnehmen, wenn sie der Norm entsprechen (also ein „normaler Mensch“ wie Richard David Precht sind). Wenn man das einmal erlebt hat, wie das ist, in einer Nahtod-Erfahrung über sich zu schweben, oder im wahrsten Sinne des Wortes „neben sich zu stehen“, während ein anderes Innen-Ich mit dem eigenen Körper handelt, oder wie einem das Gefühl, überhaupt einen Körper zu haben, fast ganz verloren geht, oder wie man plötzlich das Gefühl hat, ein winziges Wesen in einer gigantischen Körperhülle zu sein, dann ist das perspektivische Ich oder das Körper-Ich nie wieder so ganz selbstverständlich.

Einer der Fazit-Sätze dieses Kapitels bei Precht lautet: „Stattdessen haben wir ein schillerndes, vielschichtiges und multi-perspektivisches Ich. Denn die Hirnforschung beweist nicht, dass es kein Ich gibt, sondern dass unser gefühltes Ich ein unglaublich komplizierter Vorgang im Hirn ist, so faszinierend, dass wir nach wie vor allen Grund haben, darüber zu staunen.“ Ja, wir finden das auch wirklich staunenswert. Unser Ich ist halt ein noch etwas multi-perspektivischeres Viele-Ich. Aber das ist halt unsere Anpassungsleistung an die Umwelt gewesen, in der wir uns entwickelt haben, und in der sich unser Hirn entwickelt hat. Ist das nicht wiederum auch so richtig zum Staunen? Und wir wünschen uns, dass alle Menschen öfter staunen und sich wundern, egal jetzt ob über Einzel- oder Viele-Ichs. Mehr staunen, weniger abwehren, katalogisieren und pathologisieren. Das könnte die Welt für alle Un*Normalen etwas weniger be_hindern.