„Und alles Gute Ihnen noch!“ „Ja, Ihnen auch.“ Ich lege den Telefonhörer auf. Meine Hände zittern, ich spüre in uns das Bedürfnis, uns zu schütteln, ein irres Kichern und sage laut: „Ich mach uns jetzt erstmal’n Kaffee!“
Eigentlich geht es um die Frage, wie arbeitsfähig wir wirklich sind. Und um die Frage, ob wir eine Teilerwerbsminderungsrente beantragen können, und wenn ja, ob sich der Aufwand überhaupt lohnen würde. Dafür war nun eine Kontenklärung bei der Rentenversicherung notwendig.
Und dafür hatten wir heute eine telefonische Beratung. Wir wussten grob, dass wir vorher am besten alle Informationen zusammengetragen haben sollten, die unseren Lebenslauf ab dem 17. Lebensjahr abbilden, mit allen Ausbildungs- und Arbeitszeiten, und mit den Geburtsdaten unserer Kinder. Da wir den Termin gestern bekommen haben, hieß das, uns seit gestern durch Aktenordner zu wühlen. Ein spontaner trip down memory lane.
Unser Abiturzeugnis. Wir waren doch da schon mal eingeschrieben für ein Studium, haben wir davon noch irgendwelche Unterlagen? Waren diese und jene Jobs jetzt eigentlich meldepflichtig? Einige Unterlagen sind einfach nicht auffindbar. Und zwischen den anderen überall diese Schnipsel. Alte Kontoauszüge mit Unterhaltszahlungen der Herkunftsfamilie drauf. Gerichtsurkunden. Anwaltsschreiben. Schreiben von früheren Unterstützer*innen. Eine Streiterei mit der ehemaligen Krankenkasse über Zuzahlungsbefreiungen. Erinnerungen an sehr schwere Zeiten. Erinnerungen an Angst und Chaos und Überleben und irgendwie Durchfriemeln. Auf jeden Fall keine Ordnung.
Und dann das Telefonat. Eine freundlich-distanzierte Stimme am anderen Ende. Vor lauter Aufregung war unsere vorbereitete Liste erst nicht auffindbar. Irritation und leichte Ungeduld am anderen Ende. Und dann ein sachliches Abarbeiten von allen „Lücken“. „1.1.1996-3.9.1999?“ „Da war ich noch in der Schule. Ich habe Sommer 1999 Abitur gemacht.“ „Das brauche ich aber genauer!“ Stress bricht aus. Hektisches Suchen nach dem Abiturzeugnis. Wir finden da ein Datum drauf gedruckt. Lücke für Lücke geht es weiter, und ich versuche, die Orientierung zu behalten. Wann war nochmal welcher Job? Wann genau war der Beginn von dieser Ausbildung? Und immer wieder: Keine (Er-)Klärung möglich. „Ok…noch eine Lücke.“ sagt die Stimme am anderen Ende. Ich kann hören, wie sie sich im Kopf eine Meinung bildet über mich/uns. Immer wieder „Ja, ich brauche das schon etwas genauer!“ Wir haben keine Immatrikulationsbescheinigungen mehr von unseren ersten beiden Studierversuchen. Wir haben auch keine Bescheinigung über die Beendigung des Vertrags des ersten Ausbildungsversuchs. Und immer wieder „Ok, dies, das – aber ohne Abschluss, oder?“
Irgendwann hätte ich am liebsten in den Hörer geschrien: Ja, verdammt! Ich war damals mit Abtauchen beschäftigt, mit Überleben, mit irgendwas aufbauen, und ja, verdammt, das mussten wir immer wieder abbrechen, weil wir Orte wechseln mussten, weil wir zwischendurch nicht mal ne Wohnung hatten, und ja, selbst die Sozialhilfe ist uns damals monatlich in bar ausgezahlt worden, weil es nur so ging, dass die Erzeuger*innen uns nicht gefunden haben, und deshalb ja, haben wir auch da ne verdammte Lücke und keine Ansprüche erworben!
Irgendwann gab es dann „Ordnung“. Das Psychologiestudium. Das wir durchgezogen haben, mit Abschluss. Und die drei Kinder. Unser Telefongegenüber entspannte sich hörbar. Dass unsere Freiberuflichkeit auch eine gewisse Unordnung hat, dass wir auch nirgendwo anders eingezahlt haben bisher und daher seit dem Abschluss auch fast null Rentenansprüche irgendwo erworben haben, das war nur in uns parallel Thema. Dass wir nie arbeitssuchend gemeldet waren, weil es uns so große Angst gemacht hat, in diese unsichtbare, gesichtslose Struktur gezogen zu werden. Das wir uns, zwar auf einer viel sortierteren Ebene, in gewisser Weise immer noch so durchfriemeln.
Wir werden Post bekommen, wir werden einige Unterlagen noch einreichen müssen. Wir müssen nochmal vertiefter in den Aktenordnern wühlen.
Aufgelegt. Zitternde Hände, das Bedürfnis, uns zu schütteln, der Versuch, es mit irrem Kichern und Galgenhumor im Innen in den Griff zu bekommen. Ich sitze am Schreibtisch, starre nach draußen, und lasse (mal wieder) die Erkenntnis sacken, dass wir manches einfach nicht loswerden. Die verpassten Jahre, in denen wir nicht kontinuierlich lernen und arbeiten konnten. Die Lücken im Lebenslauf, die sich so schwer erklären lassen. Das gruselige Gefühl, das eigene Leben nicht richtig zu erinnern und zu fassen zu bekommen. Der Geburtsname, der dann doch immer wieder auftaucht und genannt werden muss. Und vor allem das Gefühl, doppelt und dreifach drauf zu zahlen: Erst durch die (üb)erlebte Gewalt, dann durch die Armut, die durch die Folgen davon und durch die Bedrohung ausgelöst wurden, jetzt noch immer durch die verminderte Arbeitsfähigkeit und Belastbarkeit, und durch all das Geld, was wir für Therapien, Medikamente usw. verlieren, und in Zukunft dann auch noch durch die vorprogrammierte Altersarmut.
Darauf hab ich uns erstmal nen Kaffee gemacht.
Und: Respekt und Solidarität gehen raus an alle da draußen, die noch weniger Chance hatten als wir, die gar keine Ansprüche irgendwo erwerben können oder dürfen, die keinen Abschluss erzielen konnten, der den Anschein von „geordnet im System“ sein ermöglicht, die ständig die Entwürdigung erleben, „nichts vorweisen zu können“, die sich immer und ewig rechtfertigen müssen für ihr Sein, und die immer wieder neu ihrer Würde beraubt werden.