In der letzten Zeit beschäftigen wir uns ziemlich viel mit der Frage, was es eigentlich bedeutet, Viele zu sein. Inwiefern unterscheidet sich zum Beispiel unser Selbst-Konzept von dem einer Einzel-Person?
(Die Sache mit den richtigen Begriffen ist auch – naja, so
eine Sache. Was ist denn zum Beispiel ein guter Begriff für einen Menschen, der
sich im Gegensatz zu uns nicht als Viele empfindet? Wie so häufig gibt es für
das, was als die Norm, als das Gegebene angesehene wird, gar keine Bezeichnung,
weil es ja „einfach da“ ist. Das ist so wie mit dem Begriff „trans“ für alle,
die irgendwie nicht in das zweigeschlechtliche Raster hineinpassen, und wo der
Begriff „cis“ erfunden werden musste, um als Gegenüber von trans nicht „normal“
sagen zu müssen. Was ist also ein gutes Begriffsgegenüber für Vielesein?
„Einzelsein“ könnte passen im Sinne von eine-einzelne-Identität-haben, auch
wenn die natürlich auch kein statisches, immerwährendes Gebilde ist. „Wir sind
ein Viele, du bist ein Einzel.“ Hmm. In Viele-Kreisen werden Einzels häufig
auch als Unos bezeichnet. Davon mal abgesehen, dass die UNO ein ziemlich
vielstimmiges Konstrukt ist, funktioniert der Begriff auch, wir mögen nur
irgendwie den Klang nicht. Eins-Menschen? Nee, die nehmen wir auch nicht gerade
immer als Eins-mit-sich wahr. Einzel als Bezeichnung finden wir hier gerade
irgendwie witzig. Versuchen wir es also mal damit. Du kannst uns ja mal einen
Kommentar hinterlassen, was für dich eine angenehme Selbst-Bezeichnung wäre,
wenn du als das hier lesender Mensch ein Einzel bist.)
Kehren wir nun nach diesem kleinen Exkurs zum Thema
Bezeichnungen aber wieder zum Thema zurück. Wir versuchen uns der Frage nach
dem Ich oder Wir gerade lesend anzunähern. Unter anderem haben wir gerade „Wer
bin ich, und wenn ja, wie viele?“ von Richard David Precht am Wickel. Und
hatten gerade viel Vergnügen mit dem Kapitel „Die Mach-Erfahrung. Wer
ist ich?“ Mit Mach ist der Physiker und Allround-Wissenschaftler Ernst Mach
gemeint. Der hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ich als
„unrettbar“ postuliert, weil es nach seiner Überzeugung nur eine Illusion sei,
die durch alle möglichen Empfindungen in Interaktion mit der Außenwelt
entstehe. David Hume war schon 1739 ähnlicher Ansicht. Und wir so beim Lesen:
„Ha! Es gibt gar kein Ich!“
Dann lässt Precht in dem Kapitel kurz die Psycholog*innen zu
Wort kommen. Die sagen so ungefähr: „Jo, ein Ich lässt sich nicht messen, also
gibt es das nicht so eindeutig. Aaaaaber – wir machen’s mal komplizierter,
führen das Selbst ein, mit einem Selbst-Konzept (das ist so die Idee darüber,
wer man so ist), und den Selbst-Wert (das ist so die Global-Bewertung darüber,
wie man sich so findet, als die Person, die man ist.) Und für ein
Selbst-Konzept muss man wahrnehmen, wie man handelt. Da braucht es also ein
Ich, das handelt, und ein Ich, das dieses Handeln beurteilt.“ Voll schlau, auf
diese Weise das Ich gleichzeitig umschifft und wieder eingeführt zu haben. Und
wir so beim Lesen: „Hmmm…“ Precht benutzt die englischen Worte „I“ für das
handelnde Ich, und „Me“ für das bewertende. Das sind ja wie zwei innerliche
Instanzen, die aber trotzdem nicht das zusammenhängende Ich-Gefühl eines
Einzels zu zerstören, sondern sich im Gegenteil gegenseitig ergänzen und
gemeinsam das Selbst-Gefühl eher zu produzieren scheinen. An diesem Punkt
besteht ein erster Unterschied dazu, wie sich das für uns anfühlt. Denn bei uns
werden immer wieder Handlungen ausgeführt – sowohl im Konkreten, wie
beispielsweise Milchschokolade mit Haselnüssen zu essen, obwohl der Körper das
nicht sonderlich gut verträgt, und obwohl einige Innenpersonen wollen, dass wir
vegan leben, als auch gedankliche Handlungen, wie zum Beispiel bestimmte
Bewertungen von Situationen als gefährlich, die objektiv betrachtet
ungefährlich sind, vorzunehmen – , die sich für mich als Alltag-managende
Person in diesem System als komplett ich-fremd anfühlen. Und die nicht zu einer
Stärkung des Kohärenz-Gefühls und somit zu einem klareren Selbst-Konzept
führen. Und das erlebe ich laufend, und das gilt für Gefühle, Gedanken,
Erinnerungen, Handlungen und sogar Körperempfindungen gleichermaßen. Wir haben
im Alltag einen hohen Grad an Co-Bewusstsein, aber im Extremfall muss ich ja
auch feststellen, dass in meiner Abwesenheit der Körper offensichtlich weiter
in der Welt anwesend war und Handlungen vollzogen hat, an die ich anknüpfen
muss und deren Konsequenzen ich tragen muss. Das ist dann der größte Bruch
zwischen handelndem Ich und bewertendem Ich, weil das gefühlt dann nicht mal mehr
in derselben Person stattfindet, obwohl es das ja offensichtlich tut. Und
natürlich führen solche Erfahrungen zwangsläufig eben nicht zu einem Einzel-Selbst-Konzept,
sondern zu einem Viele-Selbst-Konzept.
Weiter im Text. Die Hirnforscher*innen treten auf den
(Prechts) Plan. Und die können, ganz verkürzt geschrieben, kein Ich irgendwo
lokalisieren. Aber sie können, ausgehend von Menschen, die aufgrund von
Unfällen oder Krankheiten spezifische Ausfälle des Hirns haben, verschiedene
Arten von Unter-Ichs ausmachen: ein Körper-Ich, ein Verortungs-Ich,
ein perspektivisches Ich, ein Ich-als-Erlebnissubjekt, ein Autorschafts-
und Kontroll-Ich, ein autobiografisches Ich, ein selbstreflexives
Ich und ein moralisches Ich. Wir so beim Lesen: „Woah!!!!“ (Echt
lustig, weil wir das alles im Psychologie-Studium tatsächlich ja schonmal
gelernt haben, aber es dort irgendwie nie so in einen Sinn-Zusammenhang
gebracht haben…) Das Woah bedeutet übersetzt: Stimmt, so ein Ich-Gefühl ist
auch bei Einzels ein komplexes System. Und das ist uns ja auch klar. (Sonst
würden wir als Begriffs-Gegenüber das Wort „Simpel“ verwenden 😀 .) Aber uns
wurde beim Lesen klar, dass sich für jede Innenperson in uns jede einzelne
dieser Ich-System-Komponenten vollkommen anders anfühlen kann. Das Körpergefühl
und überhaupt die Fähigkeit, den Körper wahrzunehmen, unterscheidet sich von
Innenperson zu Innenperson, sogar bei den Alltagspersonen, die gut in Raum und
Zeit orientiert sind. Auch die Wahrnehmungsperspektive ist bei uns öfter
verschoben: Wenn ich beispielsweise von innen dabei zuschaue, wie eine andere
Innenperson im Außen handelt, dann habe ich manchmal den Eindruck, neben,
hinter oder sogar über dem Geschehen zu sein. Und was das alles mit unserem
allgemeinen Empfinden von Erlebnissubjekt-Sein, Autorenschaft und Kontrolle und
mit dem autobiografischen Empfinden macht, lässt sich vielleicht auch aus
Einzel-Sicht vorstellen. Sobald ich jetzt aber das „Wir“ an die Stelle des Ichs
setze, dann macht das alles wieder Sinn für uns. Wir haben ein Körper-Wir, ein
Verortungs-Wir, ein perspektivisches Wir, ein Wir-als-Erlebnissubjekt, ein
Autorenschafts- und Kontroll-Wir, ein autobiografisches Wir (das notwendigerweise
immer noch ziemlich poly-biografisch ist), ein selbstreflexives Wir und ein
moralisches Wir. Sobald wir uns erlauben können, ein Viele-Ich, also ein Wir zu
sein, macht das alles wieder Sinn. Und nebenbei bemerkt funktioniert ja sogar
unser Viele-Ich auf so kohärente Weise, dass wir unser Leben weitestgehend gut
im Griff haben, und sogar auch als Einzel-Ich durchgehen können, wenn wir das
wollen. Das kostet uns allerdings auf die Dauer sehr viel Energie.
Es gibt bei Precht einen Satz, der hat uns richtig
angesprungen: „Für mein perspektivisches Ich kann ich wenig, es ist jedem
normalen Menschen vorgegeben, ebenso das Körper-Ich.“ Das ist ein super
Beispiel dafür, wie Menschen Sachen als gegeben hinnehmen, wenn sie der Norm
entsprechen (also ein „normaler Mensch“ wie Richard David Precht sind). Wenn
man das einmal erlebt hat, wie das ist, in einer Nahtod-Erfahrung über sich zu
schweben, oder im wahrsten Sinne des Wortes „neben sich zu stehen“, während ein
anderes Innen-Ich mit dem eigenen Körper handelt, oder wie einem das Gefühl,
überhaupt einen Körper zu haben, fast ganz verloren geht, oder wie man
plötzlich das Gefühl hat, ein winziges Wesen in einer gigantischen Körperhülle
zu sein, dann ist das perspektivische Ich oder das Körper-Ich nie
wieder so ganz selbstverständlich.
Einer der Fazit-Sätze dieses Kapitels bei Precht lautet:
„Stattdessen haben wir ein schillerndes, vielschichtiges und
multi-perspektivisches Ich. Denn die Hirnforschung beweist nicht, dass es kein
Ich gibt, sondern dass unser gefühltes Ich ein unglaublich komplizierter
Vorgang im Hirn ist, so faszinierend, dass wir nach wie vor allen Grund haben,
darüber zu staunen.“ Ja, wir finden das auch wirklich staunenswert. Unser Ich
ist halt ein noch etwas multi-perspektivischeres Viele-Ich. Aber das ist halt
unsere Anpassungsleistung an die Umwelt gewesen, in der wir uns entwickelt
haben, und in der sich unser Hirn entwickelt hat. Ist das nicht wiederum auch
so richtig zum Staunen? Und wir wünschen uns, dass alle Menschen öfter staunen
und sich wundern, egal jetzt ob über Einzel- oder Viele-Ichs. Mehr staunen,
weniger abwehren, katalogisieren und pathologisieren. Das könnte die Welt für
alle Un*Normalen etwas weniger be_hindern.