Heute sind wir im PC über einen Ordner mit Dateien aus einem älteren Rechner gestolpert. Darin enthalten sind unter anderem mehrere Emails an unsere ehemalige Therapeutin sowie einige andere Dokumente und Geschriebenes aus der Zeit in den ersten Jahren nach dem Ausstieg.
Während wir das alles durchgesehen haben, sind wir schleichend in einen körperlichen Zustand geraten, der während dieser Jahre so sehr ein Dauerzustand war, dass wir ihn damals gar nicht gespürt haben. Es war ein tiefsitzendes, sozusagen zelluläres Entsetzen spürbar, übertüncht mit einem Eingefrorensein, einer Wattigkeit, einem traumähnlichen Zustand. Als ich realisiert habe, wie wir uns fühlten, und vom Rechner aufgestanden bin, habe ich am ganzen Körper so sehr gezittert, dass ich zunächst nicht stehen konnte. Und das, obwohl das Aufgeschriebene vor elf bis 18 Jahren stattgefunden hat, und wir jetzt seit Langem schon sehr sicher sind.
Besonders schmerzhaft waren für mich die Emails aus der Zeit, als sowohl die Therapeutin als auch wir Alltagspersonen nicht wussten, dass es noch Täter:innenkontakte gab. So viel Verwirrung, so viel Zweifel, so viel immer wieder in Frage gestelltes Vertrauen. Wenn ich jetzt diese Emails lese, dann frage ich mich, wie unsere Therapeutin damals durchgehalten hat. Und wie wir es geschafft haben, diese unglaubliche Dehnung in uns auszuhalten – eine Dehnung zwischen Innenpersonen, die nicht mal daran glaubten, organisiert rituell ausgebeutet worden zu sein, zwischen Alltagspersonen, die glaubten, in Sicherheit zu sein, zwischen unverständlichen Körperflashs und realen Verletzungen, und zwischen Innenpersonen, die innerlich ausgestiegen waren und denen, die noch voll und ganz zugehörig waren. Die Täter*innen taten uns Gewalt an, die wir selbst und unsere nächsten Menschen nicht sehen konnten, die aber umso zerstörerischer wirkte.
Wenn ich mir die Stationen unseres Ausstiegs anschaue, dann wird mir sehr deutlich, wie unfassbar verletzlich wir in dieser Zeit waren. Ausstieg heißt eben nicht, dass alles sofort besser wird.
Wir waren Anfang zwanzig, als wir den Schritt gegangen sind, unsere Familie und zunächst alle nahen Kontakte abzubrechen, bis auf den zu unserer Therapeutin und zu unserem damaligen Partner, der jedoch auch noch relativ jung war und mit der Situation und uns verständlicherweise vollkommen überfordert. Wir haben zunächst alle verloren, die uns etwas bedeuteten. Es war traumatisch, die Eltern und das Geschwister nicht nur zu verlieren, sondern auch noch feststellen zu müssen, dass wir sie fürchten müssen. Es war traumatisch, unseren eigenen Lockdown zu haben, einschließlich Stalking per Anrufbeantworter, Emails und Menschen, die vor dem Haus darauf warteten, dass wir allein in der Wohnung waren. Es war traumatisch, auch jegliche finanzielle Sicherheit zu verlieren, und erstmal jede Perspektive, weil wir unsere Ausbildung abbrechen mussten.
Es war traumatisch, in eine Institution zu fliehen, die uns schützen sollte, in der unsere Geschichte jedoch permanent angezweifelt wurde, und in der wir schließlich keinen Schutz vor einem übergriffigen Psychologen fanden. Was daran so besonders schädigend war, war, dass es eine professionelle Einrichtung war, und dass den Mitarbeitenden dort (bis auf den Psychologen) unser Wohlergehen spürbar am Herzen lag, und dass es gerade deshalb so schwierig war, noch unserer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Als immer deutlicher wurde, dass die Einrichtung überfordert war mit uns – was ich nachvollziehbar finde, bei dem damaligen Wissensstand-, waren wir das Problem. Und diese Sichtweise ist das, was uns bis heute verletzt, was wir noch immer nicht loslassen können.
Es wird mir auch jetzt erst richtig deutlich, wie aus Bindungsperspektive traumatisch es war, dass wir durch den Ausstieg, und dadurch, dass es kein großes Helfer*innennetz gab, uns so sehr auf eine Person, nämlich unsere damalige Therapeutin, beziehen mussten. Wie abhängig wir von ihr waren, in was für ambivalente Zustände uns das gestürzt hat. Auch wenn sie diese Abhängigkeit nie ausgenutzt hat, und auch, wenn es uns rückblickend beiden gut gelungen ist, das zu händeln, es war trotzdem schwierig. In diesem Zusammenhang war dann auch die latent unsicher finanzierte Begleitung durch diese Therapeutin sehr hart. Zeitweilig hat sie ohne Bezahlung mit uns gearbeitet, und dann über Jahre immer wieder nur mit sehr kreativer Abrechnung. Diese Begleitung war lebensnotwendig für uns, und immer wieder durften darüber irgendwelche Gutachter entscheiden, ob uns noch ein paar Stunden dieser Hilfe gewährt wurden oder nicht. Wie haben wir bloß diese therapeutische Bindung manövriert, zwischen Abhängigkeit und einziger Zeug*innenschaft auf der einen Seite und der ständigen Bedrohung eines Aus wegen Nichtfinanzierung auf der anderen Seite?
Die realen Angriffe der Täter_innen auf uns waren traumatisch. Die Erfahrung zu machen, nirgendwo sicher zu sein, nicht mal in der eigenen Wohnung oder im eigenen Auto unterwegs, war traumatisch. Die Erfahrung, dass die Indizien so merkwürdig waren, und unser eigenes (programmiertes) Verhalten so widersprüchlich, dass die Polizei ratlos war. Keine Wohnung mehr zu haben, keine Finanzierung mehr zu haben, weil wir noch unter 27 waren und Geld vom Amt damals bedeutet hätte, dass die Eltern herangezogen worden wären, trotz Namensänderung und Auskunftssperre. Zu unserem Schutz auf der geschlossenen Station sein und dort von einem Mitgefangenenpatienten angegriffen zu werden. Die traumatische Wirkung ausgeführter Suizidprogramme, und die Verachtung des Personals auf der Intensivstation danach.
Am schlimmsten erinnern wir jedoch das sechste Jahr nach dem Ausstieg. Wir hatten ein Studium begonnen, wie waren weiter weggezogen. Wir hatten eine geklärte Finanzierung, wir hatten gute Freund*innen, wir lebten wieder in einer Beziehung. Wir hatten einen Schutzpuffer durch eine gesetzliche Betreuer*in, die für uns die Gerichtstermine wahrnahm, mit denen die Täter:innen versuchten, Zugang zu uns zu bekommen. Es sah alles so aus, als würden wir es langsam geschafft haben.
Aber es ging uns schlecht. Immer wieder liefen Programmierungen ab, manchmal schienen sie einfach an Daten zu hängen, ganz oft war ihr Auslöser aber auch nicht klar. Und dann wurde alles wieder so massiv, Stalking auf verschiedenen Ebenen. Und dann wurde deutlich, dass es noch Abgegriffen-Werden gab, dass die Programme durch reale Kontakte ausgelöst wurden, dass es noch Innenpersonen gab, die über alles berichteten. Wir verloren fast allen Mut. Ich glaube, unsere Therapeutin war zum ersten Mal damit konfrontiert, dass organisierte Täter_innen manchmal einen sehr langen Atem haben, und sie war kurz davor, hinzuschmeißen. „Ich kann nicht dabei sein, wie Sie sich entweder selbst umbringen oder zu den Täter_innen zurückkehren.“ Diesen Ausspruch unserer Therapeutin, mit Tränen in den Augen, werden wir nie vergessen. Und ja, auch das war traumatisch, auch wenn es menschlich war, und auch wenn es nicht Ihre Schuld war, dass die Täter:innen sie und uns zu diesem Zeitpunkt fast aufgerieben hätten.
Es gäbe noch mehr aufzuzählen, aber ich bin dessen müde, und unser Punkt ist sicher schon längst klar: Ausstieg ist ein schmerzhafter und riskanter Prozess, er dauert Jahre, und er kann selbst traumatisierend sein. Wir haben in diesem Text sehr vieles als traumatisch bezeichnet, und das ist sehr bewusst geschehen. Die Erinnerungen an diese Erfahrungen haben viele Merkmale traumatischer Erinnerungen getragen; sie haben uns unkontrolliert heimgesucht, sie ließen uns dissoziieren oder jagten den Puls hoch, sie hatten Macht über uns und über das, was wir gedacht und gefühlt haben. Und zum Teil ist das immer noch so.
Was sich mittlerweile sicher verbessert hat ist, dass es ein vertiefteres und präziseres Wissen darüber gibt, was Programmierung und eine gemachte Dissoziative Identitätsstruktur bedeuten, wie organisierte Täter*innen agieren, und was theoretisch für einen gelingenden Ausstieg gebraucht wird. Immerhin gibt es mittlerweile so etwas wie den Fonds Sexueller Missbrauch, einige wenige Schutzstellen, viele Beratungsstellen, die sich mit DIS und organisierter und ritueller Gewalt auskennen, das berta-Telefon, Bücher und Fortbildungen zum Thema und weitere Stellen, bei denen sich professionelle und private Unterstützer*innen informieren können. Aber strukturell hat sich kaum etwas verändert. Therapieplätze sind fast unmöglich zu bekommen, und dann ist die Finanzierung weiterhin viel zu wenig und ständig wieder neu wackelig. Mit Plätzen in Kliniken, die überhaupt ein funktionierendes Konzept für Menschen mit einer gemachten DIS haben, sieht es ähnlich aus. Um weiteren Unterstützungsbedarf muss oft gekämpft werden. Sichere Fluchtorte sind kaum vorhanden. Das Justizsystem ist nach wie vor eigentlich gar nicht in der Lage, mit Menschen mit einer DIS sinnvoll umzugehen. Und auch diese Liste ließe sich verlängern.
Letztendlich haben wir den Ausstieg geschafft, weil immer wieder Menschen bereit waren, über die Grenzen ihrer eigentlichen Arbeit hinauszugehen. Weil Leute kreative Ideen hatten. Weil Leute ihren Job richtig, richtig gut gemacht haben. Dazu gehörten eine Vertrauenslehrerin, Therapeutinnen, ein Psychiater, eine Frau vom Sozialdienst in einer psychiatrischen Klinik, eine Beraterin in einer Beratungsstelle für wohnungslose Frauen, mehrere Nonnen in einem Kloster, eine gesetzliche Betreuerin auf Augenhöhe, ein engagierter Anwalt und eine verständnisvolle Richterin.
Aber vor allem haben wir es geschafft, weil uns immer wieder Privatmenschen und Freund*innen geholfen haben. Die uns zugehört haben, uns Geld geschenkt oder geliehen haben, die uns bei sich wohnen lassen haben, die sich nicht haben abschrecken lassen von bedrohlichen Momenten, die mit uns Nächte überstanden haben, die uns zu Terminen begleitet haben, die uns unzählige Kakaos gekocht haben, die uns ausgehalten haben, die uns Mut zugesprochen haben, die uns geglaubt haben, und die AN UNS geglaubt haben.
Ihr wart und seid das Gegengewicht und der Grund, warum es sich gelohnt hat und immer noch lohnt.