Seit Monaten verfolgen wir die Berichterstattung zu den größeren Missbrauchsfällen, und wie nach und nach immer mehr Taten und Täter*innenstrukturen aufgedeckt werden. Erst Lügde, dann Bergisch-Gladbach, und dann Münster.
Uns ist dabei die ganze Zeit aufgefallen, dass wir meistens anders auf die Berichterstattung und die Informationen reagieren, als die Menschen um uns herum. Überall so viel Überraschung, Betroffenheit, und sogar bei den Profis sichtbare Erschütterung und Ekel. Und bei uns? Vor allen Dingen Erstaunen. Es ist ja nun wirklich nicht so, dass nicht seit den 80er Jahren zunächst vor allem Feminist*innen wiederholt und beständig darauf aufmerksam gemacht haben, dass es sexualisierte Gewalt über Kinder in einem gesellschaftsüberspannenden, großen Ausmaß gibt, und dass nicht auch seit den 90er Jahren viele Psycholog*innen diese Aussagen bestätigt und bekräftigt haben. Und spätestens seit den 2000er Jahren gibt es mehr und mehr Schilderungen von Betroffenen, von Psycholog*innen, zum Teil von forensischen Expert*innen, von Berater*innen, von Seelsorger*innen, die schon damals – noch vor dem Internet, oder zu Beginn der großflächigen Nutzung des Internets -, von geschäftsmäßiger sexualisierter Ausbeutung von Kindern berichtet haben, von organisierter, heftiger Gewalt, von organisiertem Austausch von Abbildungen und Filmen und von einer geschäftsmäßigen Herstellung des Ganzen. Und jetzt lesen wir von schockierten Polizist*innen. Und hören von Politiker*innen, die ein solches Ausmaß nie vermutet hätten. Und so weiter, was man sonst noch so in allgemeiner Hilflosigkeit für Wortbausteine benutzen kann. „Unaussprechliche Gewalt“ zum Beispiel. „Unmenschliche Täter“. Und uns erstaunt das, weil wir wahrnehmen, dass diese Polizisten und Staatsanwälte und Politiker wirklich spürbar betroffen sind. Und es erschreckt uns auch zutiefst. Weil – ehrlich – wie könnt ihr denn bitte diesen Job machen und das alles ernsthaft noch nicht mitbekommen haben? Wie könnt ihr in DIESEM Job so bereitwillig NICHT geglaubt und nicht hingeguckt haben? Das zeigt uns vor allem, wie wirkmächtig die Erzählungen, die eine Gesellschaft über sich hat, wirklich sind. Denn eigentlich kann so eine Form von organisierter Gewalt über Kinder ja hier nicht stattfinden. Weil wir aufgeklärt sind. Zivil. Humanistisch. Demokratisch. Weil wir uns ja mit unserer heftigen Gewalthistorie als Staat und Gesellschaft so gut auseinandergesetzt haben.
Und dann waren wir vor allem sehr, sehr wütend. Über die Berichterstattung, über die polizeiliche Arbeit (so wir sie denn mitbekommen können), über die Prozesse, die bisher gelaufen sind. Alles kranke Einzeltäter. Natürlich. Die alle einzeln ihren Prozess bekommen. Immerhin werden jetzt über die Internet-Netzwerke, die die Täter*innen geschaffen haben, auch weitere Taten sichtbar und können so aufgedeckt werden. Aber inwiefern wird dem organisierten Anteil an dem Ganzen Rechnung getragen? Denn es macht einen Unterschied, ob meine Hauptbezugsperson mich auch noch an andere weitergibt, und es macht einen Unterschied, ob Bilder und Filme von mir in den Momenten gemacht werden, in denen ich vollkommen überwältigt, erniedrigt und entwürdigt werde, und die andere dann kaufen oder tauschen wie Fußballbildchen. Es macht einen Unterschied, ob das, was mir angetan wird, gemeinschaftlich passiert. Es geht uns gar nicht unbedingt um ein hohes Strafmaß – was wirklich wirksame Maßnahmen sein könnten, ist noch einmal eine ganz andere Diskussion -, sondern darum, dass WAHRGENOMMEN wird, wie schwerwiegend und wirklich gesellschaftsdurchziehend (und -zersetzend) das Problem ist.
Ja, es ist hart, sich diesem Teil der Realität³ zu stellen, aber umso weniger hilfreich ist dieses Narrativ davon, dass die Ermittlungen selbst für erfahrene Polizist*innen schwer zu ertragen seien. Auch wenn wir uns gut vorstellen können, dass das wirklich stimmt. Die Berichte über geschockte Polizist*innen sollen verdeutlichen, wie schlimm es ist. Wir sollten vermutlich Mitgefühl empfinden für die Menschen, die damit konfrontiert sind. Aber wenn schon Polizist*innen das eigentlich nicht aushalten, wer dann? Wem soll ich denn davon berichten können, wenn nicht der Polizei? Und wie will eine Gesellschaft wach für diese Geschehnisse werden, was die Grundvoraussetzung dafür ist, wirkungsvoll etwas dagegen zu unternehmen, wenn das alles „unvorstellbar“ und „unerträglich“ ist?
Die wachsende Zahl der Fälle der letzten Monate. Die großflächige, bundesweite und auch internationale Vernetzung, Organisierung und Verstrickung. Die scheinbar hohen Zahlen der Einzeltaten, die pro Einzeltäter verhandelt wurden. Wir waren froh darüber, dass endlich so viel ans Licht kommt. Und dennoch war da immer dieser Gedanke: Es ist doch immer noch nur die Spitze des Eisbergs.
Heute kam dann die Nachricht mit dieser großen Zahl. 30.000 Tatverdächtige, die im Zusammenhang mit den Ermittlungen rund um den Fall aus Bergisch-Gladbach als Konsument*innen von Gewalt-über-Kinder-Pornografie und als Tatverdächtige von sexualisierter Gewalt über Kinder im Raum stehen. Die Zahl ist so groß, dass sie schon schwer vorstellbar ist. 30.000 Menschen sind mehr, als in der Kleinstadt, in der wir aufwuchsen, insgesamt lebten. Die Konkretheit dieser Zahl wirkt auch auf uns beeindruckend. Und uns berührt das Wissen, das hinter jeder einzelnen Eins-Zahl so viel individuelles Leid steckt. Aber unsere allererste Reaktion beim Lesen der Nachricht? Erleichterung. Endlich wird mal von einer Dimension gesprochen, die unserer Realität³ entspricht. Die dem entspricht, worüber viele Betroffene, aber auch viele Therapeut*innen und andere Berufsgruppen schon seit gefühlt unendlich vielen Jahren berichten. Endlich wird der Eisberg mal so sichtbar, dass der unter der Oberfläche liegende Teil nicht mehr ignoriert werden kann.
Wir wissen gleichzeitig, wie stark gesellschaftliche Verdrängung wirkt. Wir müssen historisch nicht weit zurück gucken, um zu erkennen, dass eine Gesellschaft noch wesentlich größere Eisberge ignorieren kann, wenn sie nur will. Und wir wissen auch, dass Erkenntnis noch keine Veränderungen schafft, und dass eine Gesellschaft, die im Entsetzen erstarrt, nicht unbedingt handlungsfähiger wird. Es braucht viel mehr Verstehen, inwiefern Gewalt jeglicher Art als traumatisches Hintergrundmuster unsere ganze Gesellschaft durchwirkt, informiert und als kollektive Normierung die konkreten Handlungen aller mitbestimmt. Aber wenigstens einen Teil davon sehen zu können und begreifen zu können, das birgt zumindest eine Chance auf echte Veränderung.
Oder?