Warum schreiben wir? Oder: Wer soll das lesen?

„Ich habe mich so tief und so lang ins Schweigen gepackt, ich kann mich in Worten nie auspacken.“

— Herta Müller, Atemschaukel.

Wir schreiben gerne, eigentlich. Seit wir schreiben können. Schreiben war für uns von Anfang an eine Art Magie, ein Ausdrucksmittel, ein Experimentierraum. Tagebuchschreiben hat manchen von uns dabei geholfen, sich zu sortieren und Halt zu finden; Geschichten schreiben war einer von mehreren Kanälen, in Parallelwelten abzutauchen; und Poesie gab uns einen Ausdruck für ansonsten Unsagbares/unmitteilbaren Schmerz.

Schreiben ist aber oft auch ein großer Kraftakt für uns. Zum einen ist Schreiben sichtbar werden, zumindest, wenn das Geschriebene auch gelesen wird, oder auch nur, weil es potentiell gelesen werden könnte. Und so oft ringen wir mit der Sprache und ihrer Begrenztheit, können nicht den Ausdruck finden, der dem entspricht, was wir sagen müssten. Und ja, wir ringen immer wieder vor allem mit dem Schweigen, das in uns entstanden ist und das in uns gemacht wurde durch die, welche die ersten mehr als zwanzig Jahre unseres Lebens bestimmten und durch das, was uns geschehen ist, nein, sag es richtig: angetan wurde. Und wir ringen mit dem Vielesein, mit den vielen Facetten und Perspektiven in unserem und auf unser Leben, und damit, wie sich diese polyfacettierte Wahrheit am authentischsten, am wahrhaftigsten ausdrückt. Und oft genug fehlt uns zum Schreiben entweder die Zeit, weil wir mittlerweile und trotz allem ein sehr lebendiges Leben führen, oder die Kraft – weil wir trotz allem ein sehr lebendiges Leben führen, und weil wir wegen allem (immer noch/für immer?) weniger belastbar sind als andere, und oft nach Mutter sein, Partnerin sein, andere Menschen professionell begleiten oder unterrichten, nach Reproduktion und nach Grundbedürfnisse-erfüllen (und letzteres beides gelingt sowieso schon eher nicht so super, nur um keinen falschen Eindruck zu erwecken) nichts anderes mehr geht als herumliegen, Wände anstarren, uns unter der Decke verkriechen, oder stumpf irgendwas glotzen. Jedenfalls nicht mit Worten und Schweigen ringen.

Warum jetzt aber doch, warum jetzt ein Schreibcommitment, warum ein Blog? Wegen all dem: Sichtbar werden wollen, gelesen werden wollen, Ausdruck finden wollen, uns aus dem Schweigen auszupacken versuchen. In das wir eingepackt, einmanipuliert, hineinbedroht, hineingefoltert wurden, und in das wir uns nun gewohnheitsmäßig selbst einpacken. In das wir uns selbst einpacken in der Angst, dass unser Sprechen, unser Be-zeugen zu schmerzhaft und zu bedrohlich für unser Gegenüber sein könnte. Oder dass es real bedrohlich für uns werden könnte, weil entweder einige von uns in uns oder diejenigen, die die Vorbilder oder die Erschaffer*innen für jene in uns waren, finden, dass wir zu viel (aus)gesprochen haben.

Wir schreiben, weil es uns jetzt reicht. In uns, aber auch in dieser Gesellschaft, in der wir leben, von der wir ein Teil sind, an der wir teilhaben wollen, und an der wir ganz teilhaben wollen, und nicht nur der leistungsfähige, „hochfunktionale“ Teil von uns.

Wir schreiben, um ein Echo zu finden; für die Gewalt, die wir erlebt haben, in uns tragen und verkörpern, aber auch für das Gute, was wir daraus heraussieben wie kleine Goldkörnchen inmitten von Schlacke, und manchmal dem Leben regelrecht abtrotzen.

Wir schreiben, um verständlich zu machen, wie es sich anfühlt, wie es sich lebt damit, keinen Kern von „ich bin“ zu haben, sondern an dessen Stelle eine Leere, eine Sollbruchstelle, ein „ich bin bereit, mich dir vollkommen anzupassen, jederzeit, um zu überleben“, eine Leere, die umhüllt und verdeckt ist von Schichten von Ich-Potentialen, von Selbst-Fragmenten, und wie das alles doch auch irgendwie eine Identität ergibt, einen beschreibbaren Menschen mit spezifischen Persönlichkeits- und Charaktermerkmalen. Wir schreiben vielleicht auch auf der Suche nach dem Kern in der Leere.

Wir schreiben in der Hoffnung, dass unser Denken und unsere Einsichten und unsere Erfahrungen anderen was bringen. Vor allem anderen Vielen, aber vielleicht auch anderen Menschen, die Viele_Menschen auf irgendwelche Arten unterstützen. Wir schreiben, weil wir einen langen Weg gegangen sind, und ihn immer weiter gehen, und weil der sich lohnt, und weil es vielleicht irgendwem hilft, zu lesen, dass es sich lohnt.

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